Montag, 25. November 2013

Russlands Landwirtschaft.

aus NZZ, 22. 11. 2013                                                                                                                        Kollektivierung

Der Fluch der Kolchosen
Während der Modernisierungsdruck auf Russlands Landwirtschaft steigt, machen sich alte Versäumnisse bitter bemerkbar 


Das sowjetische Erbe lässt Russlands Landwirtschaft um internationalen Anschluss ringen. Ackerbau und Viehzucht im grössten Land der Erde haben Potenzial, aber es fehlen Kapital, Konsolidierung und Effizienz.

von Benjamin Triebe, Ust-Labinsk

Die Sowjetunion grüsst von den Wänden, aber Ljudmila Demjanenko redet von Wettbewerb. Wenn sich eine Zuckerfabrik nicht modernisiere, müsse sie sterben, sagt sie. Fünf Fabriken in der Region hätten schon Bankrott gemacht. Demjanenkos Zuckerfabrik im südrussischen Ust-Labinsk bisher nicht. Die Fabrik ist 55 Jahre alt, heisst immer noch «Freiheit» und kann auch sonst ihre sowjetische Abstammung nicht verbergen. In der Produktionshalle hängen grosse Mosaike im Stil des sozialistischen Realismus: der Arbeiter auf dem Felde, eine überdimensionale Steckrübe und ein Obstkorb. Am Eingang empfangen 33 Porträts unter der Überschrift «Unsere besten Arbeiter» (jene, die den Plan vorbildlich übererfüllten). Einige Steinchen sind aus den Mosaiken gebröckelt, aber diese Modernisierung hat Demjanenko auch nicht gemeint.

Hinter den Möglichkeiten

Um die russische Landwirtschaft ist es schlecht bestellt. Im flächengrössten Land der Erde liegt laut der Uno-Fachorganisation FAO ein Zehntel des global für die Landwirtschaft nutzbaren Landes, etwa 120 Mio. Hektaren. Dennoch steuert Russland nur 3% zur weltweiten Produktion von Getreide bei, beim Gemüse ist es 1%, bei der Milch immerhin 4%. Aus der Kollektivierung in der Sowjetunion und den Privatisierungen in den 1990er Jahren ist ein zersplitterter, international nicht wettbewerbsfähiger und ineffizienter Agrarsektor hervorgegangen, der den Bedarf des Landes nicht decken kann und für die gebotene Qualität oft zu teuer produziert. Seit dem Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) im August 2012 und den damit verbundenen Zollsenkungen weht der Branche ein noch schärferer Wind ins Gesicht.

Ein Betrieb, der nicht reagiert, spielt mit seiner Existenz. Die Zuckerfabrik «Freiheit» ist mit der jährlichen Produktion von 83 000 t zwar eine der kleineren in Russland, aber profitabel. 500 Menschen arbeiten im Betrieb in drei Schichten. Heute feiert Dmitri seinen 30. Geburtstag, wozu das digitale Schriftband am Haupttor herzlich gratuliert. Es ist ebenso modern wie die Anzeige mit «Soll» und «Ist» der täglichen Produktion. In den vergangenen sechs Jahren hat man umgerechnet 18 Mio. $ investiert, finanziert aus Gewinnen. Noch ist der Erneuerungsbedarf nicht zu Ende, die Anlagen stammen aus zwei Zeitaltern: links die modernen Tanks und Rohre zum Kochen des Zuckerrübensaftes, rechts die sowjetischen. Doch würde alles auf einmal saniert, müsste die Produktion stillstehen. Der WTO-Beitritt sei gut für die Fabrik, sagt Ljudmila Demjanenko. Und er sei gut für den Wettbewerb, vor dem sie keine Angst habe.

Demjanenko leitet die Zucker-Abteilung der Kuban Agro Holding, einer Dachgesellschaft von 30 Agrarunternehmen in der besonders fruchtbaren südrussischen Region Krasnodar. Das Portfolio reicht von Zuckerproduktion und Getreideanbau über Schweine- und Rinderzucht bis zur Saatentwicklung. Kuban Agro ist Teil des Konglomerats Basic Element, das der Magnat Oleg Deripaska aufgebaut hat. Basic Element vereint Geschäfte vom Finanzsektor bis zur Luftfahrt und erwirtschaftet nach eigenen Angaben 1% des russischen Bruttoinlandprodukts. Die Landwirtschaft, gebündelt in Kuban Agro, ist mit 5000 Mitarbeitern ein kleines Segment. Deripaska ist in Ust-Labinsk aufgewachsen, inzwischen gehören ihm nicht nur die Flughäfen der Region, sondern auch rund 80% des Agrarlandes im Verwaltungsbezirk der Stadt. Für seine Holding kaufte der 45-jährige Magnat ab 2002 Produktionsstätten, die zum Teil seit den fünfziger Jahren existieren.

Die Reformen der Sowjetzeit haben die russische Landwirtschaft von Grund auf umgekrempelt: Ende der zwanziger Jahre wurden alle Böden beschlagnahmt, die Bauern enteignet sowie grosse staatliche Betriebe (Sowchosen) und landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (Kolchosen) geschaffen. Die Niederlassungsfreiheit der Bauern wurde aufgehoben. Die Moral war schlecht, das System ineffizient. Verschwendung und Verschleiss explodierten, die Planwirtschaft erzeugte Mangelwirtschaft. In den Anfangsjahren kam es zu Hungersnöten. Auch später waren Produktivität und Ertrag pro Hektare trotz forciertem Einsatz von Maschinen und Chemikalien niedrig; die wenigen erlaubten privaten Betriebe wirtschafteten weitaus besser.

Wende und Abstieg

Nach der Wende erhielten die Arbeiter Anteilscheine an ihren ehemaligen Sowchosen und Kolchosen, die ihnen auf dem Papier einen Teil des Betriebes zugestanden. Wer sich allerdings mit seinen Landansprüchen selbständig machen wollte, musste ein abschreckendes Registrierungsverfahren durchlaufen - da pflanzte man lieber im eigenen Garten an. In den ehemaligen Kollektivbetrieben mangelte es derweil an Kapital und Managementfähigkeiten, die Qualität der Erzeugnisse liess oft zu wünschen übrig. Von 1992 bis 1998 schrumpfte Russlands Agrarproduktion um rund 40%. Die bebaute Fläche ist bis heute im selben Mass gesunken. Jeder fünfte arbeitsfähige Sowjetbürger soll in den achtziger Jahren in der Landwirtschaft gearbeitet haben; heute sind es 7% aller russischen Beschäftigten.

Zunächst unterstützte die Regierung die Kleinbauern, die aber zu klein waren, um produktiv zu arbeiten und zu investieren. Neben den Nachfolgern der Kollektivbetriebe entstanden derweil durch den Aufkauf der Anteilscheine Konzerne und Konglomerate. Kuban Agro zählt heute zu den zwanzig grössten Agrarfirmen und erwirtschaftete 2012 einen Umsatz von 224 Mio. $ bei einem Reingewinn von 21 Mio. $. Doch unter dem Strich bleibt die Branche fragmentiert. Rund die Hälfte der Produktion wird von kleinen oder sehr kleinen Erzeugern geleistet, die ihre geringen Mengen homogener Produkte mit wenig Preissetzungsmacht an die verarbeitende Industrie oder Grosshändler verkaufen. Weil sich wenige Ketten den Detailhandel aufteilen, zahlen am Ende die Konsumenten hohe Preise.

In der Branche lautet das Zauberwort deshalb «vertikale Integration»: In entwickelten und differenzierten Märkten lassen sich Vorprodukte wie etwa Saatgut günstig einkaufen und eigene Erzeugnisse zur Weiterverarbeitung mit attraktiven Margen veräussern. Anders sieht es aus, wenn in akzeptabler Nähe nur wenige vor- und nachgelagerte Anbieter mit akzeptabler Qualität verfügbar sind. Dann sind die Transportkosten hoch und die Margen klein. Deshalb dreht sich auch bei Kuban Agro die Wachstumsstrategie nicht um schiere Grösse, sondern um die Ausweitung des Geschäfts. Es ist billiger, das Saatgut selber herzustellen, als es am Markt zu kaufen - also soll die Produktionsanlage aufgerüstet werden. Auch für Sojabohnen wird eine eigene Verwertung gebaut, genau wie ein Schlachthaus für Rinder und Schweine. Mindestens in den nächsten fünf Jahren stehe die vertikale Integration auf dem Programm, sagt CEO Anton Ulanow. Zudem werden alle Segmente auf Produktivität getrimmt: «Den Preis können wir nicht kontrollieren, aber unsere Kosten.»

Ein Beispiel ist die Milchproduktion: Ein Liter Mich kostet im Laden 60 Rbl. (Fr. 1.70), davon erhält der Milchbauer etwa einen Drittel. Weil für die Verarbeitung so viel Marge verloren geht, denkt Kuban Agro darüber nach, auch diese selber zu erledigen. Wo die Milch dafür herkommen soll, lässt sich einige Fahrminuten von der Zuckerfabrik entfernt erkennen - aus einem der grössten Kuhställe Russland. Die flachen Baracken existieren erst seit 2008, im Gegensatz zu den antiquarischen Tankwagen, die in sowjetischem Stil nur den weiss-blau lackierten Schriftzug «Milch» tragen. 7500 Kühe haben auf der Anlage Platz. Doch wie Tierwirtin Ljubow Gretschanaja erläutert, stehen in den Ställen keine russischen, sondern kanadische Tiere, die für grosse Milchleistung gezüchtet sind. Die Arbeiterinnen in der modernen Melkbaracke werden nach gemolkener Milchmenge bezahlt.

Im September hat Präsident Putin die Ställe besucht. Der Betrieb profitierte von einem Staatsprogramm, genau wie fast alle Teile der russischen Landwirtschaft. Die Regierung zahlt eine Pauschale pro bewirtschaftete Hektare und für Saatgut - allerdings deutlich weniger als in Westeuropa, wie die Landwirte klagen. Für manche Projekte gibt es zinsvergünstigte Kredite, alle Agrarunternehmen sind von Gewinnsteuern befreit. Doch durch den WTO-Beitritt steigt der Druck: Russland musste die Agrarsubventionen reduzieren, zunächst auf maximal 9 Mrd. $ im Jahr 2012 und bis 2018 auf jährlich 4,4 Mrd. $. Der durchschnittliche Importzoll für Agrarprodukte wird von 13,2% auf 10,8% gesenkt. Stark betroffen sind Weizen und Milchprodukte, auch wenn teilweise Übergangsfristen von bis zu acht Jahren gelten. Die Branche klagt dennoch, sie sei nicht bereit. Allerdings wurde über den Beitritt 18 Jahre verhandelt - niemand kann sagen, er sei überraschend gekommen.

Investoren gesucht

Die Konkurrenz aus dem Ausland macht Investitionen im Inland umso wichtiger, genau wie der inländische Kapitalmangel auch ausländische Geldgeber erfordert. Einer davon ist die TKS Union, eine Gesellschaft von zwei Agrarbeteiligungsfirmen aus Deutschland. Zusammen mit dem grossen deutschen Fleischproduzenten Tönnies besitzt die TKS zwei Schweinezuchtbetriebe in Belgorod und Woronesch im Südwesten Russlands. Gelockt hat die TKS der wachsende Appetit der Russen auf Schweinefleisch, der zu weniger als 70% aus inländischer Produktion gedeckt wird, und der hohe Anteil an fruchtbarer Schwarzerde in dieser Region. Sie erlaubt einen Ertrag von 3,5 t Weizen pro Hektare, 1 t mehr als im landesweiten Durchschnitt. Das ist wichtig, weil die Firmengruppe namens Sojuz, an der die TKS beteiligt ist, von der Getreideproduktion über die Futterherstellung bis zur Schweinemast die ganze Arbeitskette abdecken will - vertikale Integration ist auch hier die Devise.

Ende des Jahres soll ein eigenes Futtermittelwerk die Produktion aufnehmen, später kommt vielleicht eine Fleischverarbeitung hinzu. Bis 2017 will die Sojuz-Gruppe die Ackerfläche von 45 000 auf 60 000 Hektaren erweitern und bis zu 1,5 Mio. Schweine pro Jahr statt gegenwärtig 650 000 züchten. Die Betriebe sollen zum zweitgrössten Schweineproduzenten des Landes aufsteigen. Die Gruppe erreichte 2012 mit 750 Mitarbeitern einen Umsatz von 100 Mio. € und ein Betriebsergebnis (Ebit) von 21 Mio. €. Er habe nur Positives zu berichten, sagt TKS-Vorstand Georg Reese. Mit der umständlichen Bürokratie müsse man leben, aber die Verwaltung funktioniere. Er fühle sich als Investor in Russland willkommen.

Tatsächlich hat das Land seine Vorteile: Der Kauf einer Hektare Agrarlandes kostet hier rund 500 €, verglichen mit bis zu 18 000 € in Deutschland. Da die Regierung Schweinefleischimporte nicht fördert und die Selbstversorgung aus Sicht von Georg Reese auch auf Jahre nicht erreicht sein wird, gibt es keinen Preis- oder Verdrängungswettbewerb. Die Preise, zu denen Schweine an den Schlachthof verkauft werden, liegen bis zu einem Viertel über denen in Deutschland. Das und niedrige Personalkosten kompensieren auch die kürzeren Anbauzeiten durch den härteren Winter und den geringeren Ertrag pro Fläche im Vergleich mit dem Westen.

Druck zum Lokalisieren

Russland tut aber auch viel, ausländische Produzenten mit Diskriminierungen zu Investitionen im Inland zu bewegen. Es häufen sich nichttarifäre Hemmnisse wie ungewöhnlich hohe Gesundheitsauflagen oder Nachweispflichten für Lebensmittelimporte aus aller Welt. Auch die Produktionsmittel möchte man am liebsten im eigenen Land hergestellt sehen: Beispielsweise existiert auf die Einfuhr von Mähdreschern und deren Teile seit Februar ein «Anti-Dumping-Zoll» von 27% zusätzlich zum normalen Zoll von 5%. Im Juli wurde der Strafzoll nach grossem Protest vorerst ausgesetzt, abgeschafft ist er nicht. Manch einer lässt sich von einer Produktionsverlagerung überzeugen, zum Beispiel Claas: Der deutsche Landtechnikhersteller eröffnete vor zehn Jahren als erster grosser ausländischer Branchenvertreter ein Werk in Krasnodar. Im Mai kündigte Claas an, für 115 Mio. € die Kapazität bis 2015 von 1000 auf 2500 Maschinen pro Jahr zu erweitern und die Mitarbeiter von 200 auf 500 aufzustocken.

Wer verkaufen wolle, müsse eben lokalisieren, sagt Waleri Masjukewitsch, Leiter eines Wartungszentrums von Kuban Agro. Es kümmert sich um 230 ausländische Maschinen und ist das grösste in Osteuropa. Stolz präsentiert Masjukewitsch den weitläufigen asphaltierten Hof, auf dem absolut nichts zu sehen ist: Alle Maschinen sind einsatzfähig und auf den Feldern - es ist Oktober, Erntezeit. In den Kaufverträgen sind Klauseln, wonach die Hersteller die Techniker des Käufers für die Wartung trainieren müssen. Reparaturbedarf sei vorhanden, denn der Boden sei härter als in Westeuropa, erläutert Masjukewitsch. Die Traktoren müssen mehr aushalten und wegen der grösseren Flächen weitere Wege zurücklegen. Wie es heisst, übergeben die Hersteller in Russland neue Traktoren mit der Bitte, sie «kaputt zu testen» - um herauszufinden, wo ihre Schwachpunkte liegen.

Die Fehlerdiagnose für den gesamten Agrarsektor ist komplizierter. Verglichen mit der Zeit kurz nach der Perestroika hat sich zwar viel verbessert, aber Hürden bleiben: Da ist der hohe Anteil an Kleinbauern und Hofwirtschaften, die wenig unternehmerisch denken und nicht genug Kapital für Investitionen aufbringen. Da ist die Abhängigkeit von politischer Unterstützung und von Subventionen, die aber zu niedrig sind, um den Entwicklungsrückstand zum Westen zu kompensieren, wo der Staat noch freizügiger ist. Da sind die marktbeherrschenden Handelsketten, welche die Margen der Agrarbetriebe drücken. Da ist das schlechtere Wetter als in Westeuropa, die härteren Winter, die häufigeren Missernten. Und da ist ein WTO-Beitritt, der das grösste Problem der Branche ist, aber auch ihre beste Motivation, offener und produktiver zu werden. Gäbe es einen einfachen Weg für Russlands Agrarwirtschaft, er wäre wohl schon gefunden.


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