Dienstag, 5. November 2013

Stalins Ghetto in Sibirien.

aus NZZ, 31. 10. 2013

Stalins utopisches Jerusalem
Ein Experiment löst sich auf - Besuch im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobidschan in Russlands Fernem Osten

Einerseits galt es, die sibirischen Weiten urbar zu machen, anderseits wollte Stalin wohl einfach einen missliebigen Bevölkerungsteil weghaben. 1928 wurde Birobidschan zu Jüdischem Siedlungsgebiet erklärt. 40 000 Juden folgten dem Aufruf, sich hier niederzulassen. Nur wenige ihrer Nachfahren haben ausgeharrt.

von Matthias Messmer

Was für Pläne wurden im vergangenen Jahrhundert nicht alles geschmiedet, das jüdische Volk in den entlegensten Gegenden der Welt anzusiedeln. Wohlwollende und niederträchtige, erfolgreiche und misslungene: in Ostafrika (Britisches Uganda-Programm), auf Madagaskar (Nationalsozialisten), in Australien (Kimberley-Plan) oder gar in der chinesischen Provinz Yunnan (Jakob-Berglas-Plan). Alle hatten das Ziel, das «jüdische Problem» auf ihre eigene Art zu lösen. Und dennoch blieben diese Vorhaben unrealisiert, mit zwei Ausnahmen: einem hebräisch-zionistisch geprägten (Israel) und einem jiddisch-bolschewistisch inspirierten (Birobidschan).

Zugnummer 133 verlässt die Stadt Chabarowsk am frühen Morgen Richtung Westen, um einige Minuten später die imposante, zweigeschossige Eisenbrücke über den Amur zu überqueren. Die Mehrzahl der Reisenden legt sich nochmals hin und zieht die von der Zugbegleiterin verteilten Bettlaken über die Ohren. Zeit ist allemal genug: Die Endstation auf der Transsibirischen Eisenbahn befindet sich in der südlich von Moskau gelegenen Stadt Pensa, ungefähr fünf Tagesreisen weit entfernt von hier. Kaum einer, der bereits nach zwei Stunden Fahrt an einem Bahnhof mit der jiddischen Anschrift Birobidschan aussteigt, um sich einen Ort anzuschauen, der, wenn nicht Welt-, dann zumindest Sowjetgeschichte geschrieben hat. Und das nicht durch Zufall.

Stalins umstrittene Pläne

Welche Gründe Stalin vor knapp achtzig Jahren dazu bewogen, Juden im Fernen Osten eine «Heimstätte» zu errichten, ist bis heute unter Historikern umstritten: Wusste der gerissene Diktator um ihre unermüdliche Schaffenskraft und schickte sie deswegen in eine der unwirtlichsten Regionen des Sowjetreiches, um Neuland zu erschliessen und die Industrialisierung des Landes voranzutreiben? Oder wollte er sie einfach loswerden, sie von den Grossstädten im europäischen Teil des Landes fernhalten und in den Sümpfen am Ufer des Amur ihrem Schicksal überlassen? Oder antizipierte der schlaue Führer bereits damals den sich Jahre später abzeichnenden Konflikt mit dem Nachbarland China und schickte daher Zehntausende von Juden zur Sicherung der Grenzen mehr als sechstausend Kilometer von Moskau entfernt nach Fernost? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.

«Ich danke Ihnen, Genossen, dass Sie mich hierher geschickt haben. Hier werde ich mich niederlassen und endlich aufhören wie ein typischer 'Jude' zu leben, d. h. wie ein Luftmensch.» Das war einfacher gesagt als getan, waren doch die meisten Juden, die nach Fernost aufbrachen, völlig unvorbereitet für ein Leben in der Landwirtschaft. Zumal in einem Gebiet, das ständig überflutet und von Mückenplagen heimgesucht wurde. Dennoch folgten in den ersten Jahren nach der Gründung des Autonomen Jüdischen Gebiets im Jahre 1934 bis zu 40 000 Sowjetjuden dem Aufruf des Generalissimus, das brachliegende Land zu kultivieren. Einige blieben, doch die meisten konnten sich mit dem Projekt nicht anfreunden und kehrten entweder in den europäischen Teil der UdSSR zurück oder liessen sich in anderen grösseren Städten Sibiriens nieder.

Bahnhof

Vor dem lachsfarbigen Bahnhofsgebäude steht der Pferdewagen mit Tewje, dem Milchmann. Auf der Ladefläche sitzt seine Frau Golde. So deutet man als Fremder das etwas steife Paar. Kaum einer betrachtet es, schon gar nicht der alte Mann, der vornübergebeugt auf seinem Stock an einer zehn Meter hohen Menora vorüberhumpelt. Gedankenverloren blicken die beiden osteuropäischen Juden in den sonnigen Morgen. Als ob sie wüssten, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Auch genau sechzig Jahre nach dem Tod des Diktators noch. Ihr Blick ist ebenso ausdruckslos wie jener der Kwass-Verkäuferin, die hier, immerhin mit Erfolg, auf Kundschaft wartet. Der imposanten Skulptur haftet nichts Idyllisches und schon gar nichts Bedrohliches an. Der Untergang der Schtetl-Kultur scheint niemanden zu berühren. Weshalb soll er auch. Europa ist weit weg. Ein überproportionales Spielzeug, wie aus einem Souvenirladen, oder eine amüsante historische Attraktion in einem Disneyland, in Bronze gegossen und zeitgemäss «made in China». Es handelt sich um ein Geschenk der Kohle- und Schwesterstadt Hegang in der chinesischen Provinz Heilongjiang, die, nur durch den Amur getrennt, dem Autonomen Gebiet Birobidschan gegenüberliegt.

Eine sozialistische Planstadt

Der Schweizer Architekt und Gropius-Nachfolger als Direktor des Bauhauses Hannes Meyer hatte die Stadt auf Geheiss der Moskauer Führung im Jahre 1933 nach den Prinzipien einer sozialistischen Städteentwicklung entworfen. Wie weit seine Pläne berücksichtigt wurden, ist nicht eindeutig nachvollziehbar. Heute erinnern nur noch wenige Gebäude an die laut Propaganda goldenen Jahre des jüdischen Gebiets, das im Zuge von Stalins antisemitischer Kampagne nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stellung als Vorzeigeheimstätte für sowjetische Juden verlor. An der Lenin-Strasse 22 steht beispielsweise das Gebäude, in dem sich Druckerei und Redaktion der einzigen jiddischsprachigen Zeitung der Sowjetunion, des «Birobidschaner Shtern», befanden. Noch heute erscheint diese Zeitung, zwar in russischer Sprache, doch einmal wöchentlich mit einigen Seiten in Jiddisch. Das jüdische Theater hingegen wurde bereits Ende der vierziger Jahre geschlossen, später in einen Palast für Pioniere und Schulkinder umgewandelt und in den frühen achtziger Jahren abgerissen.

Ein kleines Mädchen kurvt in einem batteriebetriebenen Mini-Oldtimer um eine Schar Tauben, die sich auf der Scholem-Alejchem-Strasse ihre Federn in den Sonnenstrahlen wärmen. Hin und wieder wirft ihnen ein unrasierter Rentner einige Brosamen zu. Der Mann selbst gönnt sich eine Flasche Bier. An einer Hauswand hängt ein Flugblatt mit dem Titel «Er war eine gigantische Persönlichkeit», darunter ein Porträt von Lenin sowie der Verweis auf sein Geburtsjahr vor 143 Jahren. Wenige Meter daneben findet sich auf einer Litfasssäule eine Anzeige für Yoga-Kurse. Der Lehrer, so steht es da, sei persönlich in Indien ausgebildet worden. Als ob das irgendetwas bedeutet. Auf einer Parkbank vor dem einstigen Bürgermeisteramt sitzt ein älteres Ehepaar mit seinem geistig behinderten Sohn. Ihre Schirmmützen deuten auf Touristen hin. Mit der rhetorischen Grussformel «Unsere Stadt ist schön, nicht wahr?» räumen sie das Missverständnis aus und folgern dann gleich selbst: «Sonst wären Sie ja nicht von so weither zu uns gekommen.» Man will die Leute nicht enttäuschen und geht, freundlich nickend, weiter. «Danke für den Sieg», heisst es da unter einem Wahlplakat von Einiges Russland. Das Bild zeigt weissgekleidete junge Frauen, Arm in Arm mit Kriegsveteranen, deren Westen mit Orden üppig beladen sind. Eine seltsame Eintracht, diese Paare. Weltfremd und vielleicht gerade deshalb so passend zu Birobidschan.

Medwedjew in Birobidschan

Man hofft, dass sich das Nebulöse dieses Ortes beim Gespräch mit dem Rabbiner ein wenig lichtet. Das wird allerdings nicht einfach, denn Elyahu Riss ist gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt. Die UdSSR stand bei seiner Geburt kurz vor dem Zerfall. Noch hat er keinen Wikipedia-Eintrag wie sein Vorgänger Mordechai Scheiner aus Israel. Doch dafür ist Riss der erste Rabbiner in der achtzigjährigen Geschichte der Stadt, der hier geboren ist. Nein, seine Eltern waren überhaupt nicht religiös, gibt er ohne Zögern zu. Zwar habe es in seiner Kindheit keine Schinkenbrote gegeben, man ging aber auch nicht zur Synagoge. So wie die Mehrzahl der Sowjetjuden halt. Den Glauben habe er selbst entdeckt. Vor zehn Jahren errichtete die in New York beheimatete Lubawitscher-Bewegung die neue Synagoge, der Riss seit einigen Monaten stolz vorsteht. Er versteht diesen Ort als offenes Gotteshaus, für alle zugänglich, auch für Nichtjuden. Freudvoll und mit Humor führt der grossgewachsene Rabbiner den Besucher durch die an den hellen Gebetsraum angrenzende Ausstellung über jüdische Geschichte und Kultur. Eine Art Puppenstube für Erwachsene, ist diese kindlich-naiv konzipiert: Ragusa-Schokolade und Fanta-Dose zur Illustration koscherer Lebensmittel fehlen hier ebenso wenig wie eine Chuppa (Traubaldachin) samt Brautpaar in Pappmaché. In der historischen Ecke erinnern Listen mit Namen von KGB-Spitzeln innerhalb der jüdischen Gemeinde an die dunklen Seiten der Vergangenheit dieses Orts.

China vor den Toren

Noch existiert Stalins fernöstliches Jerusalem. Vor allem in den Köpfen. Das jüdische Birobidschan soll nach dem Willen von Riss auch in Zukunft weiterleben, obwohl die wenigsten der drei- bis viertausend hier ansässigen Juden religiös sind. Die ebenfalls von den Chabad-Chassidim organisierte Sonntagsschule zieht mittlerweile bereits Nichtjuden an. Doch davon, dass Mitte der achtziger Jahre die jüdische Gemeinde in Birobidschan selbst alte russische Frauen, die den Sabbat einhielten (möglicherweise sogenannte Subbotniki), einladen musste, um das nötige Quorum von zehn mündigen Juden sicherzustellen, hat Elyahu Riss nichts gehört. Hingegen kennt er den weniger lustigen und vor Ort kursierenden Witz, das Jüdische Autonome Gebiet werde dereinst in ein chinesisches umgewandelt.

Das im Kulturzentrum der Stadt befindliche mehrstöckige Restaurant Teatralnij macht mitunter gerne Werbung mit Spare-Ribs. Warum auch nicht in einer Utopie. Der Eigentümer dieses stadtbekannten Etablissements ist Chinese mit, wie er sagt, jüdischen Wurzeln. Er lebt vom Klischee Birobidschan und davon, dass vor seinem Restaurant ein Notenschlüssel in Form einer Menora steht. Hierher kommt bestimmt jeder ausländische Besucher, auch wegen des Süss-Sauren und der Nähe zu China. Eine Morozhenoje, das allseits geliebte russische Speiseeis, gönnt man sich dann aber vielleicht doch lieber beim «Pensionär», dem sozialen Supermarkt, wie es über dem Eingang an der Komsomolskaja 11b heisst. Doch der köstliche Stengel schmilzt rasch dahin. Übrigens: Vor 1858 gehörte das ganze Gebiet zum chinesischen Kaiserreich.


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