Mittwoch, 27. November 2013

Was vom Kolonialismus bleibt.

aus NZZ, 26. 11. 2013                                         Statue of Lord Kitchener, being erected in Khartoum —Sidney March sculptor. 1912

Die langfristigen Folgen des Kolonialismus
Ob sich die Kolonialzeit eher negativ, eher positiv oder nur minimal auf ein Land auswirkt, hängt von diversen Faktoren ab: dem Gewaltniveau der Fremdherrschaft, der Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der Ausbeutung und den mehr oder weniger konfliktträchtigen Grenzziehungen.  

Von Patrick Ziltener 

Historisch waren sich Befürworter wie Gegner des Kolonialismus darin einig, dass Kolonialherrschaft einen grossen Einfluss auf die unterworfenen Gesellschaften ausgeübt hat - allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Der Historiker Jürgen Osterhammel spricht vom Kolonialismus insgesamt aber als einem «Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit». In vielen Weltgegenden war die flächendeckende Kolonialherrschaft zudem eine zeitlich eng befristete und wenig effektive Herrschaftsform. Es gibt aber auch Länder und Regionen, die von kolonial induzierten Prozessen tiefgreifend verändert und in ihrer heutigen Form erst eigentlich erschaffen wurden, etwa dort, wo grossflächige Rohstoffförderung und Plantagenwirtschaft sowie umfangreiche Migrationsströme zusammenwirkten, wie in Malaysia oder Südafrika.

Besteuerung, Schulbildung, Verletzungen

Was lässt sich ein halbes Jahrhundert nach der Entkolonisierungswelle der 1960er Jahre über die langfristigen Wirkungen des Kolonialismus sagen? Ein Forschungsprojekt am Soziologischen Institut der Universität Zürich hat dies anhand von 83 Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens untersucht. In diesen Ländern lebten Ende des 20. Jahrhunderts etwa 73 Prozent der Weltbevölkerung.

Erwartet haben wir, dass die langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kolonialismus vor allem dort nachhaltig sind, wo die Lokalgesellschaften tiefgreifend transformiert wurden. Dies ist nicht der Fall: Unter den solchermassen veränderten Gesellschaften finden sich sowohl erfolgreiche als auch wirtschaftlich stagnierende oder zerfallende Länder. Folgende Länder wurden in unserer Untersuchung als am tiefgreifendsten kolonial umgestaltet definiert: Südafrika, Kenya, Simbabwe, Angola und Guinea-Bissau in Afrika, Indonesien, Indien, Kambodscha, Myanmar und die Philippinen in Asien - Länder mit sehr unterschiedlicher postkolonialer Entwicklungsdynamik.

Massgeblich ist nicht die Transformationstiefe, sondern es müssen andere Aspekte des Kolonialismus langfristig wirksam sein - bestimmte Faktoren wie der Abfluss finanzieller Ressourcen, brutale Besteuerungssysteme oder sozialpsychologische Verletzungen. Solche Faktoren zu vergleichen, ist allerdings schwierig. Gleichwohl gelang es, dreizehn Indikatoren zu finden, mit denen sich der Einfluss kolonialer Faktoren auf die postkoloniale Entwicklung Afrikas, Asiens und Ozeaniens statistisch überprüfen lässt. Sie reichen von der unterschiedlichen kolonialen Herrschaftsintensität und dem damit verbundenen Gewaltniveau, der Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der Investitions- oder Handelsumlenkung, Missionierung und Arbeitsmigration bis hin zu mehr oder weniger absurden kolonialen Grenzziehungen. Die statistischen Ergebnisse zeigen, dass - wie zu erwarten - die wirtschaftliche und gesellschaftliche Prägekraft des Kolonialismus nach der politischen Unabhängigkeit langsam abnimmt. Am ehesten lässt sich eine nachhaltige Wirkung der kolonialzeitlichen Schulbildung nachweisen.

Die interessantesten Ergebnisse unserer statistischen Modelle fanden sich jedoch im politischen Bereich: Die Überlebenschancen postkolonialer Demokratien werden von der Dauer der Kolonialisierung beeinflusst: Je direkter und je kürzer die koloniale Herrschaft, desto geringer die Chancen für Demokratie, wobei das Niveau der kolonialen Schulbildung diesem Effekt positiv entgegenwirkt.

Fatale Folgen der Gewalt

Vor allem aber schälte sich ein fundamentaler Zusammenhang heraus: Gute Regierungsführung hängt eng mit dem kolonialen Gewaltniveau und der Organisation der Entkolonisierung zusammen, und zwar unabhängig vom Ausmass der kolonialen Transformation. War die Entkolonisierung ein ungeregelter, gewaltförmiger, katastrophischer Prozess, sind die Chancen für die Etablierung guter Regierungsführung bis heute nachhaltig beschädigt. Dieses Ergebnis ist statistisch robust, unter Kontrolle zahlreicher anderer, nichtkolonialbedingter Faktoren wie Geografie, vorkoloniale Verhältnisse usw. Die Bedeutung der jeweiligen Kolonialmacht (zum Beispiel Grossbritannien contra Frankreich), auf die sich die Forschung bisher konzentrierte, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Der blosse Hinweis auf national unterschiedliche Stile kolonialer Verwaltung erfasst nicht die Inhalte, um die es wirklich geht, wie begrenzter Gewalteinsatz, geordneter Machttransfer, weniger Handelsumlenkung. Tatsächlich fand aber die Ausbildung einheimischer Beamter, die Absicherung des Rechtssystems und eine geordnete Machtübergabe häufiger in britischen Kolonien statt als in anderen. Auch die Bedeutung des Faktors Grenzziehung ist zu relativieren. Erstens gibt es keine «vernünftigen» Grenzen, ausser vielleicht unüberwindbare Hochgebirgszüge. Die politische Ausgestaltung der Aussenwirtschaftsbeziehungen ist viel relevanter. Erst eine schlechte Wirtschaftspolitik führt zur Aufspaltung funktionaler Wirtschaftsräume und zu wirtschaftlich negativen Effekten. Zweitens ist das «Zusammenwerfen» verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen in einen kolonialen Staat manchmal fataler als ihre Trennung. Langfristiges Unheil kann man vor allem mit der kolonialherrschaftlichen Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen anrichten, zum Beispiel mit der Bevorzugung von Christen in der Verwaltung, von Chinesen für die Steuereintreibung oder mit der Missionierung von kriegerischen «Bergstämmen» und ihrem Einsatz in der Kolonialarmee und -polizei.

Wir finden also Belege, dass der Kolonialismus auch ein halbes Jahrhundert nach der Dekolonisierung einen Einfluss auf Regierung, Staat und damit Lebenschancen ausübt. Es wäre voreilig, den Westen aus seiner historischen Verantwortung für die massgeblich von ihm geschaffene globale politische Vergesellschaftung zu entlassen.

Patrick Ziltener ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Zürich und betreibt wirtschafts- und entwicklungssoziologische Forschungen.

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