Mittwoch, 18. Dezember 2013

Die Schweiz ist auch nicht vom Himmel gefallen.

aus NZZ, 18. 12. 2013                                                                                                                     berwis  / pixelio.de

Schweizerische Untertanen
Ein Blick in den zwölften und vorletzten Band des «Historischen Lexikons der Schweiz»

von Thomas Maissen · Das «Historische Lexikon der Schweiz» nähert sich fristgerecht seiner Fertigstellung. Auch den vorletzten, den zwölften Band prägen umfassende Kantonsartikel: Uri auf der einen Seite und Thurgau und Tessin auf der anderen erinnern daran, dass die Alte Eidgenossenschaft bis 1798 durch individuelle und kollektive Untertanenverhältnisse geprägt war. Die Urner herrschten alleine über das Urserental und die Leventina; weiter östlich teilten sie sich bis Bellinzona mit Schwyz und Nidwalden die Hohheitsrechte; und im restlichen Tessin, zwischen dem Maggiatal und Mendrisio, waren die - bis auf Appenzell - übrigen eidgenössischen Orte Teil eines zwölfköpfigen Souveräns, der sich diese Gebiete um 1512 unterwarf.

Historisches Lexikon der Schweiz, Band 12: Sti-Vin.  
Schwabe, Basel 2013. 912 S., zahlreiche Abbildungen, Fr. 298.-; 
gleicher Preis für die französische und die italienische Ausgabe.

Da die Eroberung des Thurgaus schon 1460 erfolgte, stellten - bis 1712 ohne Bern - nur sieben der acht alten Orte die Landvögte in der dortigen Gemeinen Herrschaft. Im Tessin wurden die wenigen Protestanten 1555 aus Locarno vertrieben und liessen sich wie die Pestalozzi und Orelli in Zürich nieder. Dagegen lebten im Thurgau Katholiken und, dank Zürcher Schutz, Reformierte nebeneinander und teilten sich in siebenundzwanzig Gemeinden die sogenannten Simultankirchen. Ebenso eigentümlich für den Thurgau war der Stand der teils weltlichen, teils geistlichen Gerichtsherren, darunter viele Klöster und der Bischof von Konstanz. Sie trafen sich jährlich zu eigenen Tagungen und übten Feudalrechte über Leibeigene aus.
 
Eingeschränkte Bürgerrechte

Wie die Eidgenossen eroberten die drei rätischen Bünde 1512 Mailänder Territorium, neben den Grafschaften Chiavenna und Bormio auch die Veltliner, die sie anfangs als «liebe und getreue Bundsgenossen» ansprachen. Doch statt sie an den eigenen Bundstagen mitbestimmen zu lassen, unterwarfen die Bündner die Veltliner ihrem Landeshauptmann, der in Sondrio residierte, und mehreren «Podestaten», die das Geld wieder eintrieben, mit dem sie ihr lukratives Richteramt erworben hatten. Die auch durch den konfessionellen Gegensatz genährte Unzufriedenheit eskalierte 1620 im «Veltliner Mord» an sechshundert Reformierten, worauf die Drei Bünde in den Dreissigjährigen Krieg hineingezogen wurden.

1797 wollte Napoleon ihnen das Veltlin als vierten Bund angliedern, aber die Bündner lehnten die Gleichstellung der bisherigen Untertanen ab, worauf das Veltlin an die Cisalpinische Republik und später an Italien fiel. Gleichzeitig setzte die Helvetische Republik 1798 erstmals das allgemeine Männerwahlrecht durch, das aber in den folgenden Verfassungen durch Zensusbestimmungen wieder stark eingeschränkt wurde. Auch als es die Bundesverfassung von 1848 wieder einführte, blieben etwa zwanzig Prozent der erwachsenen Bürger davon ausgeschlossen. Als Gründe für den Ausschluss galten Geistesschwäche (bis heute), strafrechtliche Verurteilung, fruchtlose Pfändung und Konkurs, Sittenlosigkeit, Armengenössigkeit, Bettelei und weitere «Defizite», die politische Unmündigkeit nahezulegen schienen. Die jüdischen Schweizer erhielten das kantonale und eidgenössische Stimm- und Wahlrecht erst 1856, in lokalen Angelegenheiten erst als Folge der 1866 gewährten Niederlassungsfreiheit. Ebenfalls nur allmählich wurden in den Kantonen Zensusbestimmungen oder der Ausschluss von Zugewanderten, Dienstboten und Analphabeten abgeschafft. Bis 1971 war nur etwa ein Viertel der Wohnbevölkerung bei Nationalratswahlen wahlberechtigt, ehe das Wahlrecht für Frauen, aber auch für Zahlungsunfähige oder strafrechtlich Verurteilte diesen Anteil auf gute sechzig Prozent ansteigen liess.

Während die Zahl der Berechtigten beträchtlich zunahm, ging die Beteiligung an den Nationalratswahlen stetig zurück. Sie lag allerdings auch im 19. Jahrhundert nicht überall bei gut achtzig Prozent wie in Schaffhausen, wo noch heute Stimmzwang besteht. Besonders die Verlierer des Sonderbundskriegs, mit Schwyz an der Spitze (unter dreissig Prozent Beteiligung), nahmen bis 1917 deutlich weniger an den Nationalratswahlen teil, wogegen im 20. Jahrhundert die Abweichungen vom schweizerischen Durchschnitt geringer ausfallen. In der Zwischenkriegszeit nahmen achtzig Prozent der Berechtigten an den Nationalratswahlen teil, ab 1939 sank der Anteil auf gegenwärtig etwa fünfzig Prozent.

Aufschlussreiche Grafiken illustrieren auch die Tatsache, dass die türkische Wohnbevölkerung in der Schweiz seit den 1960er Jahren steil auf gut achtzigtausend Menschen im Jahr 1990 anstieg, etwa acht Prozent der ausländischen Bevölkerung. Inzwischen liegt dieser Anteil nur noch bei der Hälfte, weil viele Türkischstämmige das Bürgerrecht erhielten. An der noch geringen Zahl von insgesamt fünftausend Studierenden betrug um 1900 der Anteil der Ausländer wiederum fast die Hälfte. Und 1907 war ein Viertel der Studierenden weiblich, auch sie vor allem Ausländerinnen, namentlich aus Russland und Deutschland. Als dort bis zum Ersten Weltkrieg das Frauenstudium eingeführt wurde, gingen die Zahlen entsprechend zurück: Erst 1975 betrug der Anteil der Frauen an den damals schon sechzigtausend Studierenden wieder ein Viertel, und heute stellen sie die Hälfte der hundertdreissigtausend Studierenden.
 
Streiks

Nicht zuletzt war die Zeit unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg der Höhepunkt von Arbeitskämpfen mit jährlich rund dreihundert verschiedenen Streiks, was auch im internationalen Vergleich Spitzenwerte waren, die dank Arbeitsfrieden und Hochkonjunktur in der Nachkriegszeit weitgehend vergessen gingen. Dass dies vergängliche Errungenschaften sein können, beweist das frühe 21. Jahrhundert mit zwar anzahlmässig weiterhin wenigen Streiks, aber solchen, an denen viele sich beteiligten.


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