Donnerstag, 26. Dezember 2013

Serbien vor dem Weltkrieg.

König Petar I.
aus NZZ, 21. 12. 2013 
                                                                                                          
Dunkler Fleck?
Christopher Clarks serbischer Sonderfall

von Andreas Ernst · Was Christopher Clarks «Schlafwandler» aus vielen Neuerscheinungen zum «Grossen Krieg» heraushebt, ist nicht die gleichmässige Verteilung der Kriegsschuld. Diesem Trend folgen viele. Hingegen ist die Rolle, die der Balkan beim Kriegsausbruch erhält, aussergewöhnlich: Der Balkan symbolisiert für einmal nicht nur die «Zündschnur», die durch die Schüsse von Sarajevo das Pulverfass Europa zur Explosion bringt. Clark zeigt vielmehr, wie Russland und Frankreich durch ihre serbische «Balkan-Connection» in den Konflikt zwischen Wien und Belgrad hineingezogen werden. Der Balkan wird vom randständigen Unruheherd zum europäischen Akteur. Serbien, schreibt Clark, erscheine zu Unrecht bis jetzt als «weisser Fleck» im Tableau des Kriegsausbruchs. Diese Sicht teilt er mit dem einschlägigen Standardwerk der serbischen bzw. jugoslawischen Geschichtsschreibung, mit Andrej Mitrovics erstmals 1984 erschienener Studie «Serbien im Ersten Weltkrieg». Doch der Vergleich zeigt auch markante Differenzen.

Im Aufbruch

Was wir bei Clark von Serbien zu sehen bekommen, ist das faszinierende und unheimliche Bild eines Landes, das sich in einem gewaltigen Aufbruch befindet. Es ist ein Staat, dessen Fläche sich in den Balkankriegen 1912/1913 auf Kosten des Osmanischen Reichs fast verdoppelt hat - der aber nicht über die Mittel verfügt, die neuen Gebiete administrativ zu integrieren. Dafür ist der Einfluss des Militärs massiv gewachsen, und Teile des Offizierskorps konkurrieren erfolgreich mit der Regierung von Ministerpräsident Pasic um die Macht. Armee und Geheimdienst unterhalten eine Art «tiefen Staat», in dem nationalistische Geheimorganisationen wie die «Schwarze Hand» über die Drina blicken - ins österreichisch annektierte Bosnien, wo die Serben die grösste Volksgruppe sind. Belgrad mit seinen irredentistischen Ambitionen erscheint als ein «serbisches Piemont».



Auch das ist bei Mitrovic ähnlich. Aber die nationale Bewegung beschränkt sich bei ihm nicht auf Belgrad und nicht auf die Serben. Im Gegenteil. Im österreichisch annektierten Bosnien ist eine Befreiungsbewegung entstanden, das «Junge Bosnien», die sich nicht primär aus der Belgrader Agitation speist, sondern von den bosnischen Zuständen motiviert wird. Es sind Schüler serbischer, aber auch kroatischer und muslimischer Herkunft, die gegen die koloniale Fremdherrschaft rebellieren. Aus ihren Reihen werden sich die Juni-Attentäter rekrutieren. Das Ziel ist für die einen die Vereinigung aller Südslawen, für andere der Zusammenschluss mit Serbien. Bei Clark dagegen kommt die «kriminelle Energie» aus Belgrad. Obwohl es ihm nicht gelingt, die Spur vom Attentat in Sarajevo zur Regierung nach Belgrad aufzuzeigen, ist für ihn Serbien die treibende Kraft bei der Ermordung des Thronfolgerpaars durch Gavrilo Princip.

Im Vergleich zum stets als «ultranationalistisch» bezeichneten «Serbisch-Piemont» erscheint Clarks Österreich-Ungarn fast wie ein idyllischer Vorläufer der EU: zwar mit unübersehbarem Demokratiedefizit, aber seine Völker erfolgreich modernisierend. Das trifft auf manche Gebiete und bestimmte Zeiten wohl zu - aber gewiss nicht auf Bosnien nach der Annexion 1908: Schliesslich hatten die österreichischen «Landeschefs» die osmanische Fronbauernschaft ganz einfach übernommen. Es ist nicht zufällig, dass Mitrovic den Balkan viel stärker als fremdbeherrschten Raum zeichnet, in dem die Interessen der Osmanen, Österreicher und Russen aufeinanderprallen und vom deutschen «Drang nach Osten» überlagert werden. Der schrittweise Rückzug der Türken eröffnet neue Chancen - erstmals nicht nur den Mächten, sondern auch den Balkanvölkern selber: Sie werden zu historischen Subjekten. Dieses antikoloniale Moment entgeht Clark und ebenso die Hoffnung, die sich mit der Befreiungsbewegung der Südslawen verband. Zu Recht dagegen zeigt er die Kehrseite dieser Selbstbefreiung: den serbischen Kolonialismus in den neuen Untertanengebieten Mazedonien und Kosovo.

Ein «Anti-Fischer»

Clarks imposantes Buch ist nicht zuletzt ein «Anti-Fischer». Fritz Fischers These - der deutsche «Griff nach der Weltmacht» als Ursache der Katastrophe - ist für Clark ein Produkt bundesrepublikanischer Vergangenheitsbewältigung der 1960er Jahre. Der Vorwurf der Rückprojektion allerdings fällt auf Clark zurück. Durch Quervergleiche und Anspielungen (auf Srebrenica, Rambouillet, Kosovo) macht er deutlich, dass er Serbien und den Balkan aus der Perspektive der jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre sieht - mit dem (ewigen?) serbischen Ultranationalismus als Hauptschuldigen. Das ist bedauerlich, weil ahistorisch - und seltsam, weil mit Ressentiments verbunden. Auf Proteste aus dem Balkan hat Clark übrigens reagiert. In der deutschen Übersetzung erscheinen Gavrilo Princip und seine Mitstreiter nicht mehr als «Terroristen», sondern als «Attentäter».

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