Mittwoch, 15. Januar 2014

Chiles Kupfer.

aus NZZ, 14. 1. 2014                                                                                                                            Chuquicamata

Chiles Lebenselixier
Der Abbau von Kupfer bringt Wohlstand ins südamerikanische Land, schafft zugleich aber auch gefährliche Abhängigkeiten

von Tjerk Brühwiller, Calama

Chiles Norden wird von Bergbaufirmen dominiert. Sie heben hier den wertvollsten Schatz des Landes: Kupfer. Das Metall gilt als Wachstumsmotor. Dessen Zugkraft lässt allerdings allmählich nach. Das könnte die ganze Wirtschaft beeinträchtigen. 

Tief unten ist ein dumpfes Grollen zu hören. Es stammt von den unzähligen Maschinen, die sich unaufhörlich in den Fels fressen. Einer Ameisenstrasse gleich schleppen sich die Trucks die Steilwände hoch. So winzig sie aus der Ferne scheinen, so gigantisch sind sie von nah: 400 t Gestein laden die haushohen Muldenkipper, die täglich rund 4000 l Diesel verbrauchen. 80 bis 90 der motorisierten Monster sind im Einsatz hier, in Chuquicamata, der Mine der Superlative. Mit 5 km Länge, 3 km Breite und mehr als 1 km Teufe ist Chuquicamata der grösste Tagebau der Welt. Fast 3 Mrd. t Erz wurden hier seit Aufnahme der industriellen Kupferproduktion 1915 abgebaut. Mit der Verstaatlichung der Aktivitäten 1971 ging die Mine in die Hände des staatlichen Bergbauunternehmens Codelco über. Der heute weltgrösste Kupferhersteller ist nach wie vor Besitzer des Werks.

Ein Segen für die Staatskasse

Chuquicamata ist das Wahrzeichen der chilenischen Kupferindustrie und damit auch der Wirtschaft insgesamt, in deren Zentrum die Gewinnung dieses Metalls steht. Schon Präsident Eduardo Frei sagte über den Kupferbergbau, dass dieser die tragende Säule der chilenischen Wirtschaft sei; das war in den 1960er Jahren. Chile produzierte damals 0,5 Mio. t Kupfer pro Jahr (1960), rund 13% der Weltproduktion. Der Ausstoss hat sich seither verzehnfacht. 2012 kam ein Drittel der Weltproduktion aus Chile; 42,3 Mrd. $ brachte die Kupferausfuhr ein, mehr als die Hälfte aller Exporteinnahmen des Landes.

Die Steigerung ist vorab auf den grossen Zufluss ausländischer Finanzmittel nach der Redemokratisierung 1990 zurückzuführen. Mehr als ein Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen floss in den letzten zehn Jahren in den Bergbau. Der Anteil der Privatunternehmen an der Kupferproduktion beträgt heute zwei Drittel, 1990 war es noch ein Drittel gewesen. Die Nachfrage aus Asien und der Boom des Kupferpreises ab 2004 sorgten ebenfalls dafür, die Rolle des Kupfers als Stützpfeiler von Chiles Wirtschaft zu festigen.

Das robuste Wachstum des Landes und der gestiegene Wohlstand basierten zum grössten Teil auf den hohen Kupferpreisen der vergangenen Jahre, sagt Patricio Meller. Der Ingenieur und Ökonom war unter Präsident Lagos (2000 bis 2006) in der Direktion von Codelco, danach präsidierte er den Verwaltungsrat. Dadurch sei die Kupferproduktion zu einem hochrentablen Geschäft geworden, wovon nicht nur die vielen Bergbaufirmen, sondern vor allem auch der Staat profitiere. Ein grosser Teil der Gewinne wandert über Codelco nämlich direkt in die Staatskasse. Der Konzern generierte 2011 mehr als 12% der öffentlichen Einnahmen. Zusammen mit den Steuern der Privatfirmen hat das Land mehr als einen Fünftel seiner Einkünfte sowie auch die Speisung der Staatsfonds dem Kupfer zu verdanken. «Viele Chilenen realisieren nicht, dass sie dank dem Kupfer weniger Steuern bezahlen», sagt Meller.

Reich und seelenlos

Um die Steuerlast muss sich Hernan Vega keine Sorgen machen. Vega, dessen richtiger Name wegen der Kommunikationspolitik seines Arbeitgebers nicht genannt wird, ist einer von rund 13 000 Angestellten in der Mine von Chuquicamata. An seinem von der Wüstensonne gebräunten Handgelenk glitzert eine schmucke Golduhr. Lässig chauffiert er den Pick-up durch das staubige Labyrinth. Seit knapp dreissig Jahren arbeitet Vega in der Mine. Beim Blick von einem Aussichtspunkt in die Tiefe wirkt er ein wenig sentimental: «Als ich anfing, waren wir etwa in der Hälfte», sagt er und zeigt auf eine Stelle im Krater. Warum er es bis heute in diesem knochenharten Job in der trockensten Wüste der Welt ausgehalten hat, ist rasch erklärt: «Das Geld», meint er grinsend. Er würde nirgends besser bezahlt als hier. Seinen Lohn will Vega nicht verraten. Dass die Minenarbeiter jedoch mehr verdienen als die meisten Chilenen, ist bekannt. Das schnelle Wachstum des Sektors und der Mangel an Fachkräften treiben Saläre und Boni in die Höhe. In vielen chilenischen Minen verdient ein Lastwagenfahrer heute mehr als seine Kollegen in den USA.

55 000 Beschäftigte zählt der gesamte Kupferbergbau im Land. Viele von ihnen leben in Calama. Die Stadt, rund 20 km von Chuquicamata entfernt, hat sich innert wenigen Jahren zum Zentrum der chilenischen Kupfergewinnung entwickelt; mehr als 30 Minen gibt es in der Region. Auf den Strassen Calamas wimmelt es von grossen Pick-ups, neu gebaute Siedlungen mit grünen Gärten bieten komfortablen Wohnraum zu horrenden Preisen. In den Shoppingcentern wird eifrig konsumiert. Jeder Job im Bergbau schaffe drei weitere Stellen, heisst es. Ein Blick auf regionale Erhebungen bestätigt das Bild: Die vier Bergbauregionen in Nordchile belegen die Spitzenplätze, was die Ausgaben in Supermärkten, die Anzahl Autos pro Einwohner, Abonnemente für Kabelfernsehen und ähnliche Indikatoren angeht. Das jährliche Bruttoinlandprodukt pro Kopf in der Region Antofagasta, zu der auch Calama gehört, lag 2010 bei rund 33 000 $. Die Minenregionen belegen aber auch andere Spitzenplätze. Mit Ausnahme der Hauptstadt Santiago werden nirgends so viel Alkohol und Drogen konsumiert und Straftaten begangen. Auch in Calama finden sich wie in vielen Goldgräbercamps jene, die keinen der begehrten Arbeitsplätze fanden und durch die Maschen der Gesellschaft fielen. Keine chilenische Stadt ist reicher als Calama - und keine ist seelenloser. Dass fast 60% der Bevölkerung in einer Umfrage die Stadt als unattraktiven Wohnort bezeichnen, spricht für sich.

Zugeschüttete Geisterstadt

Bis vor einigen Jahren existierte in Chuquicamata eine gleichnamige Stadt mit Bars, Spielplätzen, Schulen und sogar einem Theater. Mit der Ausdehnung der Mine und den härteren Umweltauflagen mussten die 25 000 Einwohner der Stadt umgesiedelt werden; 2008 zog die letzte Familie weg. Heute ist der Ort am Eingang zur Mine eine Geisterstadt. Vom einstigen Spital ist nichts mehr zu sehen. Es liegt begraben unter den riesigen «Tortas», wie die grossen Schutthügel in Form von geschichteten Torten genannt werden.

Gut möglich, dass irgendwann die ganze Geisterstadt unter dem Schutt der Mine verschwindet. Das unbrauchbare Gestein, das beim Abbau des Erzes anfällt, schafft nämlich ein Problem, mit dem die Mine in Chuquicamata und andere ältere Gruben zu kämpfen haben: Die Filetstücke sind abgebaut, der Kupfergehalt des Erzes nimmt ab; lag er einst bei 1,5%, beträgt er heute noch 0,8%. Um die Tagesproduktion von 850 t Feinkupfer zu halten, werden in der Mine 100 000 t Kupfererz und - da nur eine Flanke der Grube erzhaltig ist - 500 000 t Gestein abgebaut. Die einst potenteste Mine und das Herzstück von Codelco hat in den letzten Jahren einen herben Effizienzverlust erlitten. Die Produktion sank 2012 auf 356 000 t, womit sie sich innert zehn Jahren halbiert hat.

Um die Produktion zu halten, hat das staatliche Unternehmen einen der ambitiösesten Investitionspläne seiner Geschichte ausgearbeitet. Bis zu 25 Mrd. $ will Codelco in den kommenden fünf Jahren investieren, um verschiedene Projekte voranzutreiben. Eines davon betrifft auch Chuquicamata. Tief unten im Krater bohren sich die Maschinen in den Fels hinein zu den reichhaltigen Erzen. 18 km der Tunnel stehen bereits. In ihnen soll ab 2020 der Abbau unter Tag aufgenommen werden. Ein Problem hat Codelco allerdings: Die Gewinne des Unternehmens fliessen vollumfänglich in die Staatskasse, und über die Investitionen bestimmt der Finanzminister. Die Aufwendungen von Codelco stehen so in direkter Konkurrenz zu Investitionen im Gesundheits- oder Bildungswesen. Die Finanzierung sei eine der grössten Herausforderungen, lässt das Unternehmen verlauten; man schliesse eine Verschuldung nicht aus.

Es sind allerdings nicht nur die sinkenden Erträge der alten Minen, die dem Bergbausektor das Leben schwermachen. Steigende Lohnkosten sowie eine Verknappung von Energie und Wasser stellen die Branche ebenfalls vor grosse Probleme. Alleine Chuquicamata verbraucht pro Monat rund 250 MWh und 5 Mrd. l Wasser. Zur Lösung des Stromproblems dürfte Chile künftig vermehrt auf Solarenergie setzen. Eine erste grössere Anlage in der Atacamawüste wurde im vergangenen Jahr eingeweiht. Das Wasser, das heute aus den Kordilleren stammt, könnte künftig aus Entsalzungsanlagen an der Küste in die Minen gepumpt werden. Dies würde die Produktionskosten allerdings weiter in die Höhe treiben.

Kommt der Hauptgang noch?

Steigende Produktionskosten und schrumpfende Gewinne hätten zur Folge, dass die Investoren sich nach anderen Anlageobjekten umsehen würden, sagt Patricio Meller. Letztlich hänge aber alles vom Kupferpreis ab; solange dieser hoch sei, werde sich nichts ändern. Und daran glaubt Meller. Die Nachfrage werde nicht zurückgehen, sagt er mit Blick auf Asien. China werde weiter wachsen, und wenn Indien dem Weg Chinas folge, werde Chile noch lange von seinem Kupfer profitieren. «Der Hauptgang kommt erst noch.» Meller geht so weit, dass er fordert, die Wirtschaft des Landes müsse sich noch viel stärker als bisher auf das Metall fokussieren. Man müsse Cluster um diese Ressource bilden, die Zulieferer der Bergbauindustrie nach Chile holen, eigene Technologien entwickeln oder bestehende weiterentwickeln, sagt er. So lasse sich Mehrwert generieren, nicht nur im Bergbau, sondern auch in anderen wichtigen Bereichen des Landes wie Holz, Fischerei oder Frischobst.

Auch der Ökonom und frühere Regierungsberater Luis Eduardo Escobar empfiehlt der Wirtschaft eine Diversifizierung. Was die Ausrichtung auf Rohstoffe und besonders auf Kupfer angeht, ist er allerdings weitaus skeptischer. «Chile reitet auf einer Welle, die langsam den Strand erreicht», mahnt er. Die Abhängigkeit der Wirtschaft und namentlich des Staatshaushalts vom Kupfer erachtet Escobar als höchst gefährlich. Wenn sich Indien nicht im selben Tempo wie China entwickeln sollte oder neue, günstigere Produzenten wie zum Beispiel Peru hinzukämen, würden die Kupferpreise mittelfristig sinken - mit ernsthaften Folgen für Chile. Sinke die Notierung auf ein langfristig tieferes Niveau, gehe die Rechnung Chiles nicht mehr auf.

Wie stark die chilenische Wirtschaft mit dem Kupferpreis steht und fällt, zeigt die derzeitige Entwicklung. Nach Jahren mit einem Wirtschaftswachstum von 5% und mehr muss Chile 2013 mit einem Wachstum von 4% bis 4,5% rechnen. Hauptgrund sind die nachlassende Nachfrage Chinas und die dadurch tieferen Kupferpreise. Und so wird man von Calama bis Santiago weiter bangen Blickes nach Asien schauen - dorthin, wo der wahre Stützpfeiler der chilenischen Wirtschaft steht.



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