Mittwoch, 8. Januar 2014

Deutsch-Europa?

aus NZZ, 8. 1. 2014

Deutschland, Deutschland über alles? Dass die europäische Achse Frankreich-Deutschland, um die sich fünfzig Jahre lang so gut wie alles gedreht hatte, nun schief steht und zu brechen droht, ist das eigentliche Drama Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts.  
 
Von Dieter Freiburghaus

Als 1962 Präsident de Gaulle in Bonn Bundeskanzler Adenauer besuchte, erklang - so sagt die Fama - zweimal die Marseillaise, während das Deutschlandlied im Schrank blieb! In der Tat stand damals die Bundesrepublik in Dankesschuld zu Frankreich: Damit die Westhälfte Deutschlands zum souveränen Staat werden konnte, musste das alliierte Ruhrstatut aufgehoben werden. Jean Monnets Geniestreich bestand darin, sechs «karolingische» Länder in eine supranationale Organisation derart einzubinden, dass die Bundesrepublik zum gleichberechtigten Partner werden konnte und gleichzeitig die Kontrolle über die deutsche Montanproduktion bestehen blieb.
 
Gemeinsame Verantwortung

Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 spielten die Bundesrepublik und die Benelux-Staaten allerdings vorübergehend eine grössere Rolle als Frankreich, welches durch den Algerienkrieg geschwächt war. Paris hatte zudem Angst vor der Konkurrenz durch die deutsche Industrie und stimmte dem gemeinsamen Markt erst zu, als Bonn zu wesentlichen Konzessionen bereit war: Agrarpolitik nach französischem Gusto, relativ hohe Aussenzölle und Teilung der Dekolonialisierungslasten. Im Sommer 1958 kam General de Gaulle wieder an die Macht. Das liberale Projekt eines gemeinsamen Marktes mit supranationalen Institutionen passte ihm eigentlich nicht, doch er erkannte, dass die Verbindung von französischem politischem Genie mit deutscher Wirtschaftskraft zur Grundlage eines «europäischen Europa» werden konnte, in welchem Frankreich die erste Geige spielen würde. Er lernte Adenauer kennen und schätzen. Mit dem Elysée-Vertrag von 1963 besiegelten die beiden Herren ihre Freundschaft. De Gaulle verhinderte, dass das Vereinigte Königreich in diesem Bunde der Dritte wurde.

De Gaulle ging, Adenauer ging, und die «Söhne» Georges Pompidou und Willy Brandt wollten den Vätern nicht nachstehen. Die Franzosen strebten eine Stärkung der Gemeinschaft an, und das Kabinett Brandt/Scheel brauchte für seine neue Ostpolitik eine sichere Verankerung im Westen: Die gemeinsamen Interessen brachten die Integration voran. 1973 traten Grossbritannien, Irland und Dänemark der EWG bei, was bewies, dass diese Organisation nun definitiv für die europäische Einigung zuständig war. Weitergehende Integrationspläne (Politische Union, Währungsunion) scheiterten in der Folge an den Wirtschaftskrisen der siebziger Jahre. Doch einen Lichtblick gab es, dank der Freundschaft zwischen Präsident Valéry Giscard d'Estaing und Kanzler Helmut Schmidt: Sie realisierten 1978 das Europäische Währungssystem, welches gut funktionierte und zu stabilen Wechselkursen bei sinkender Inflation führte.

Es war eine erstaunliche personelle Konstellation, die in den achtziger Jahren zur «Relance» der Gemeinschaft führte. 1983 löste Helmut Kohl die sozialliberale Koalition ab. 1984 beendete François Mitterrand seine sozialistischen Experimente. Margareth Thatcher war in London fest im Sattel und verfolgte ihre liberale Reformpolitik. Was sollte, was konnte da in Europa geschehen? Der grösste gemeinsame Nenner war die endliche Realisierung eines wirklichen gemeinsamen Marktes, nun Binnenmarkt genannt. Unter der energischen Leitung von Jacques Delors gelang der grosse Wurf, und Europa erholte sich. Mit den Beitritten Griechenlands, Spaniens und Portugals wurde der mediterrane Einfluss gestärkt und das geografisch-kulturelle Gleichgewicht wieder hergestellt. Dann kam 1989 mit dem Fall der Mauer einer der heikelsten Momente der Nachkriegsgeschichte. Die deutsche Wiedervereinigung stiess in Frankreich auf Skepsis. Nun sah Kanzler Kohl die Chance, ein grosser Deutscher und ein grosser Europäer zu werden: Er stimmte der von Frankreich ersehnten Währungsunion zu. Kohl wurde Taufpate des Euro, und die neue Zentralbank kam nach Frankfurt. Die flankierende Errichtung einer Wirtschafts- und Fiskalunion blieb allerdings auf der Strecke. Die Währungsunion war das letzte grosse Projekt, welches von Frankreich und Deutschland gemeinsam getragen wurde. Ein Danaergeschenk.
 
Geografische Mitte verschoben

Inzwischen hat sich Europas Landkarte gewaltig verändert. Während bis 1990 die Bundesrepublik, Frankreich, Grossbritannien und Italien flächen- und bevölkerungsmässig ähnlich gross waren, wuchs Deutschland um 16 Millionen Einwohner und verschob seine Grenzen nach Osten. 1995 stiessen skandinavische Länder (Schweden, Finnland) zur Union. Mit der Osterweiterung von 2004 kam Polen dazu, und damit wurden die ehemals deutschen Gebiete Schlesien, Pommern und Ostpreussen Teil der Union. Mit den Baltischen Staaten rückte diese auf 150 Kilometer an Sankt Petersburg heran. Die Ostsee wurde zur rasch aufstrebenden «neuen Hanse». Mit den Beitritten Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens driftete die Mitte der EU noch Südosten.

Dies hat dazu geführt, dass Deutschland heute das geografische Zentrum der Union bildet. Die Verlegung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin unterstrich dies auf symbolträchtige Weise. Da nun zudem Deutschland Frankreich wirtschaftlich weit hinter sich lässt, der Mittelmeerraum von Krisen geschüttelt wird, wird aus der zentralen Lage eine Dominanz, die von Deutschland nur widerwillig akzeptiert wird. Wenn Kanzlerin Merkel es ablehnt, über Eurobonds «Lateineuropa» auf Dauer zu finanzieren, dann sollten die andern es ihr danken, denn «wer zahlt, befiehlt». Die europäische Achse Frankreich-Deutschland, um die sich während fünfzig Jahre alles gedreht hatte, ist in Schieflage und droht zu brechen. Das ist das eigentliche Drama Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts. 1871 wurde der schwächelnde Deutsche Bund von Berlin zum Reich zusammengeschweisst. Es wäre eine ungemütliche Vorstellung, sollte sich Ähnliches nun im europäischen Massstab wiederholen.

Dieter Freiburghaus ist emeritierter Professor für europäische Studien am Idheap der Universität Lausanne.

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