Montag, 13. Januar 2014

Die Legende von Lope de Aguirre.

aus NZZ, 7. 12. 2013                                                                                          Karte von Amazonien von Diego Gutiérrez, 1562


Der Enterbte der Conquista
Die Rebellion Lope de Aguirres gegen die spanische Krone ist gut dokumentiert - und entzündet doch immer von neuem die literarische Phantasie

von Ingrid Galster

Seit ihn Klaus Kinski in Werner Herzogs Film als diabolischen Berserker spielte, kennt man Lope de Aguirre (um 1511 bis 1561) auch hierzulande. Jenseits der Fiktion war Aguirre ein Konquistador, der sich auf der Suche nach dem Gold von Eldorado gegen die spanische Krone auflehnte. Er büsste dies mit dem Tode.

Der baskische Eroberer Lope de Aguirre kam Mitte der siebziger Jahre international zu Berühmtheit, als Werner Herzogs Film «Aguirre, der Zorn Gottes» in Paris Kultstatus erlangte. Seitdem ist die historische Figur fast untrennbar mit dem Gesicht Klaus Kinskis verbunden, dem die Rolle eines irren Megalomanen auf den Leib geschrieben zu sein schien. Mit der Realgeschichte ist der Film nur vordergründig verbunden. Werner Herzog hatte in einem Abenteuerbuch die Darstellung der ersten beiden Fahrten von Spaniern über den Amazonas bis zur Mündung gefunden und diese zu einer einzigen amalgamiert, wobei sein Hang zum Irrationalen ihm half, den Stoff so zu gestalten, dass er der beginnenden Vernunftkritik unter den Intellektuellen entsprach.

Wie sieht die historisch verbürgte Vorlage aus? Die Rebellion des Basken ist durch zahlreiche, in Taschenbuchausgaben leicht zugängliche Quellen, auch von Aguirres eigener Hand, dokumentiert. Danach war der in Oñate (Provinz Guipúzcoa) geborene Konquistador in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre nach Amerika ausgewandert, vermutlich weil er wie viele andere Emigranten keinen Anspruch auf das väterliche Erbe geltend machen konnte. Er hatte an einer Reihe von Eroberungszügen teilgenommen, ohne das Ziel zu erreichen, das alle Konquistadoren verfolgten: von der Zwangsarbeit der unterworfenen Eingeborenen zu leben entsprechend dem geleisteten Einsatz und dem investierten Kapital.

Nach der Eroberung Perus war das Territorium schnell an eine Minorität von Spaniern verteilt worden. Ausserdem schränkten die sogenannten «Neuen Gesetze» von 1542, die Karl V. auf Drängen der Dominikaner (insbesondere von Las Casas) erlassen hatte, das Verfügungsrecht der Spanier über die Eingeborenen stark ein. Es folgten mehrere Aufstände, die das gesamte Gebiet in Aufruhr brachten, die die Krone jedoch mithilfe einer geschickten Realpolitik niederschlagen konnte. Dennoch fand der neu ernannte Vizekönig 1556 Tausende unzufriedener Spanier vor, mit denen er fertigwerden musste.

Der Traum vom vielen Gold

Eines der Mittel, sie aus dem kolonisierten Gebiet zu entfernen, waren neue Eroberungszüge, unter anderem zum «El Dorado», einer Region, die nördlich des Amazonas vermutet wurde. Der Vizekönig versicherte Karl V. in einem Schreiben vom November 1556, dass man auf diese Weise 800 bis 1000 Männer loswerden könne, deren Rückkehr unmöglich sei.

Lope de Aguirre nahm in Begleitung seiner Tochter (einer jungen Mestizin), einer spanischen Gouvernante und eines Pagen an der Expedition teil, die im September 1560 an einem der Quellflüsse des Amazonas aufbrach. Schon 1542 hatten Spanier auf der Suche nach Zimtwäldern den Fluss vollständig durchfahren. Danach behaupteten sie, kriegerische Frauen gesehen zu haben, die mit jenen der antiken Mythologie identifiziert wurden. Ihnen verdankt der Fluss seinen Namen.

«El Dorado» (wörtlich «der Vergoldete») bezeichnet einen Kaziken, der mehrmals im Jahr, mit Goldstaub bepudert, ein rituelles Bad in einem See in der Nähe von Bogotá genommen haben soll. Der Name wurde auch synonym für Reiche oder für Städte benutzt, in denen man grosse Schätze vermutete. Dies sollte der Fall sein in einer Provinz namens Omagua, von der die Teilnehmer an der ersten Amazonasexpedition berichteten. Nach den ungeheuren Gold- und Silberschätzen, die die Spanier 1533 dem Inka Atahualpa entrissen hatten, war die Vorstellung nicht so abwegig, wie man heute zu glauben geneigt sein könnte.

Was folgt, wurde durch die Chroniken berühmt-berüchtigt. Drei Monate nach Expeditionsbeginn wird der Anführer der Truppe, Pedro de Ursúa, von einer Gruppe von Verschwörern - unter ihnen Aguirre - umgebracht. Der adelige Baske, gebürtig aus Navarra, hatte durch die Protektion eines einflussreichen Verwandten schon früh eine Machtposition in Amerika inne, konnte sich durch die Unterwerfung ganzer Eingeborenenstämme und schwarzer Sklaven profilieren und trat als Stadtgründer hervor. Der Vizekönig hatte ihn zum Gouverneur des zu erobernden El Dorado ernannt. Statt seiner wird ein anderer Adeliger, der Andalusier Fernando de Guzmán, von den Verschwörern zum Anführer bestimmt. Die Ziele werden neu definiert. Statt das Goldland zu suchen, an dessen Existenz man nicht mehr glaubt, soll die Truppe über den Atlantik und den Pazifik nach Peru zurückkehren, das Land in einem Blitzangriff unterwerfen und ihren neuen Anführer zum König krönen. Diese Absicht wird im März 1561 mitten im Amazonasgebiet von fast allen Expeditionsteilnehmern notariell beglaubigt unterschrieben und beschworen. Sie bedeutet die Ausgliederung aus dem spanischen Imperium und die Errichtung einer autonomen Monarchie. Eine Kopie des Dokuments liegt im Indienarchiv in Sevilla.

Aguirres Route.

Das Projekt scheitert jedoch. Guzmán besinnt sich anders und wird nach zwei Monaten seinerseits ermordet. Nun übernimmt Aguirre, der bis dahin im Hintergrund blieb, die Leitung der Truppe. Er bringt alle um, die sich ihm in den Weg stellen. Als sie die Insel Margarita vor der Nordküste Venezuelas erreichen, fliehen die ersten Mitglieder der Truppe zum Festland und verraten den Plan. Der Blitzangriff Perus per Schiff ist nicht mehr durchführbar. Aguirre und seine Leute versuchen, über die Anden nach Peru zurückzukehren, während die Krone Truppen zusammenzieht, die sie aufhalten sollen. Am 27. Oktober 1561 wird er erschossen, enthauptet und gevierteilt.

Aber kurz zuvor, als er sieht, dass seine Situation aussichtslos ist, schreibt er einen Brief an Philipp II., der an Kühnheit alles übertrifft, was damals vorstellbar war. Den mächtigsten Souverän der Erde redet er mit «Du» an und wirft ihm vor, grausam und undankbar zu sein angesichts der Dienste, die er ihm bei der Conquista geleistet habe. Solange die eigentlichen Eroberer dieser Länder nicht entschädigt worden sind, spricht er der spanischen Krone das Recht ab, aus ihnen Nutzen zu ziehen, da sie dort nichts riskiert habe. Er sagt sich von Spanien los und erklärt dem König den Krieg. Der Brief, der unter der Hand kursierte und erst nach Ablösung der Habsburger durch die Bourbonen auf dem spanischen Thron Anfang des 18. Jahrhunderts publiziert wurde, ist als das Testament eines «Enterbten» der Conquista bezeichnet worden.

Aber als solcher ging Lope de Aguirre nicht in die Geschichte ein. Der Renegat, der dem von Gott eingesetzten König und fanatischen Vorkämpfer des Katholizismus bescheinigt hatte, schlimmer zu sein als Luzifer und weniger glaubhaft als Martin Luther, wurde zunehmend zur Inkarnation des Bösen, während die Kolonialchronisten seinen Gegenspieler Ursúa, dessen Biografie durchaus dunkle Stellen enthält, zum Symbol von Tugend und Königstreue stilisierten. Die Motive der Rebellion und ihre Repräsentativität für die Frustration vieler gingen in der Überlieferung verloren, bis um 1900 ein baskischer Amateurhistoriker die Dokumente mit quellenkritischem Bewusstsein las und die Rebellion in den Kontext der Aufstände im frühkolonialen Peru stellte.

Auch der sogenannte «neue historische Roman», der seit den siebziger Jahren zu einer dominierenden Gattung in Hispanoamerika wurde, setzt sich die Korrektur der «historia oficial» zum Ziel. Zwei Autoren, die den Stoff in diesem Sinne aufgriffen, sind der Argentinier Abel Posse mit seinem 1978 publizierten Roman «Daimón» und der Venezolaner Miguel Otero Silva, der sein Werk «Aguirre, Fürst der Freiheit» ein Jahr später vorlegte. Nach der Jahrtausendwende hat sich einer der Shootingstars der neuen lateinamerikanischen Literatur, der 1954 geborene Kolumbianer William Ospina, erneut mit der Materie beschäftigt, wobei allerdings Ursúa im Zentrum seiner Romantrilogie steht. Der 2005 erschienene erste Band trägt denn auch den Namen des Navarresen im Titel.

Recherchen - bei Wikipedia

Gabriel García Márquez, dessen 2002 erschienene Autobiografie Ospina bearbeitet hatte, bescheinigte dem Roman, «das wichtigste Buch des Jahres» zu sein. Für den folgenden Band, «El país de la canela» («Das Zimtland»), der die erste Amazonasexpedition thematisiert, erhielt Ospina 2009 den begehrtesten Literaturpreis Lateinamerikas, den Premio Rómulo Gallegos, den vor ihm unter anderem die künftigen Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa und Gabriel García Márquez zuerkannt bekommen hatten. Der dritte Band schliesslich ist der zweiten Amazonasexpedition gewidmet, an der auch Aguirre teilnahm und auf der Ursúa umkam. Er erschien mit dem Titel «La serpiente sin ojos» («Die Schlange ohne Auge») mit zwei Jahren Verzögerung im November 2012 in Kolumbien und im Mai 2013 in Spanien.

In allen drei Romanen wird das Geschehen aus der Sicht eines erfundenen Ich-Erzählers wiedergegeben, der sich seiner Identität als Mestize sehr bewusst ist. Sie erlaubt es ihm, Empathie sowohl mit den Eingeborenen als auch mit den Spaniern zu üben, obwohl er ihre Grausamkeit bei der Unterwerfung der Indios als «Holocaust» verurteilt, auch im Falle Ursúas, der ihm freilich das Leben gerettet hat, weswegen er sich ihm stark verpflichtet fühlt. Zunehmend zieht ihn jedoch die eingeborene Weltsicht an, bis er sich schliesslich völlig mit ihr identifiziert und das Streben der Europäer nach Dominanz als das Grundübel erkennt, das ihr gesamtes Handeln bestimmt. Ospina hatte diese Position bereits 1992 in einem Essayband vertreten. Damals urteilte Mario Vargas Llosa in «El País», dass trotz der schönen Prosa die zentralen Gedanken nicht besonders neu seien: die Vorstellung einer archaischen, magisch-religiösen Idylle der Eingeborenen, die dem europäischen Diktat von Vernunft und Fortschritt entgegengesetzt wird. Tatsächlich hatte Abel Posse bereits 1978 in «Daimón» die beiden Paradigmen unter Verwendung des Aguirre-Stoffes in einer hinreissenden Synthese der Geschichte Amerikas parodistisch miteinander konfrontiert.

Neu ist dagegen das, was man bei Ospina über Aguirre liest. Sollte er Quellen entdeckt haben, die der einschlägigen historischen Forschung bisher verborgen blieben? Anders als Posse, der die Opposition von Realität und Fiktion dekonstruiert, lässt Ospina in beigegebenen Kommentaren wissen, was historisch verbürgt ist und was seine eigenen Zutaten sind. Was der Ich-Erzähler über Aguirre preisgibt, muss der Leser demnach für abgesichertes Wissen halten. Sein Geburtsort, so erfahren wir, ist Aramayona. Sein Stiefvater, gegen den er aufbegehrte, hiess Estíbaliz de Aguirre. Als Schuster in Vitoria vergewaltigte er ein Mädchen, weswegen er hingerichtet worden wäre, hätte er nicht im letzten Augenblick aus dem Gefängnis fliehen können. Dann schiffte er sich nach Amerika ein unter einem Rodrigo Burán. Als ein Richter ihn dort nach Erlass der Neuen Gesetze bei der brutalen Ausbeutung von Eingeborenen erwischt hatte und auspeitschen liess, verfolgte er ihn sechs Jahre lang ununterbrochen durch ganz Peru, um sich an ihm zu rächen. Über Aguirres Rebellionsmotive erfährt man nichts, wohl aber, dass er zunehmend dement wurde, 72 Spanier umbrachte, wenn ihm gerade danach war, und dass er einen Brief an Philipp II. schrieb, in dem er sich selbst «Verräter» genannt, seine Absicht, König der Indias zu werden, kundgetan und dem König mitgeteilt habe, dass er zum Zorn Gottes geworden sei.

In dem 1589 veröffentlichten Epos über die Eroberung des nördlichen Teils von Südamerika des Klerikers Juan de Castellanos, dem Ospina bei der Verleihung des venezolanischen Literaturpreises 2009 eine Liebeserklärung machte und den er als wichtigste Quelle für seine Romantrilogie nennt, sind diese Informationen nicht zu finden. Sie sind der spanischen Wikipedia-Notiz über Lope de Aguirre entnommen! In der neueren Fachliteratur, die Ospina vorlag, wird ausdrücklich vor ihr gewarnt. Aber Ospina war mit seinem Buch im Verzug und hatte es eilig. So wurde unter dem Mantel der Geschichtsfiktion einmal mehr der Leser getäuscht und die Figur des baskischen Konquistadoren der Willkür der Nachwelt ausgeliefert.

William Ospina: Ursúa (Alfaguara, Bogotá 2005); El País de la canela (Norma, Bogotá 2008); La serpiente sin ojos (Mondadori, Bogotá 2012).

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