Mittwoch, 5. März 2014

Der Kommissar und die Paranoia.

aus NZZ, 5. 2. 2014

Allgemeine Verunsicherung
Luc Boltanski über die gemeinsame Geschichte von Kriminalliteratur, Soziologie und Paranoia 

von Bernd Stiegler · Der Kriminalroman, die Soziologie und die Paranoia entstehen allesamt im 19. Jahrhundert. Sie sind so etwas wie gesellschaftliche Geschwister, deren Familienähnlichkeiten und Unterschiede Luc Boltanski in einem überaus anregenden Buch herauszuarbeiten sucht. Ihre Ähnlichkeit ist dabei ebenso erhellend wie beunruhigend - nicht zuletzt für einen Soziologen, der versucht, eine kritische Soziologie zu entwerfen, die mit der Paranoia nichts zu tun haben sollte, sondern sich auf Fakten zu gründen hat. Lieblingsbruder der Soziologie scheint daher der Kriminalroman zu sein, der, auch wenn er dem Reich der Fiktion angehört, Gesellschaftsanalyse betreibt. Doch auch diesem ist die Kritik fremd. Er ist zutiefst affirmativ. Boltanskis materialreiche Studie, die sich streckenweise wie ein Kriminalroman liest, ist darum historische Analyse und Grundlagenschrift zugleich. Dem französischen Autor geht es um die soziologischen Dimensionen von Kriminal- und Spionageroman, um die gesellschaftlichen Implikationen der Paranoia und schliesslich um eine Klärung der Voraussetzungen einer kritischen Soziologie. Das ist ein eindrucksvolles Programm, das das Buch in weiten Teilen brillant realisiert.


Rückkehr zur Ordnung 

Die bemerkenswerten Drillinge werden aus dem Geist einer aus den Fugen geratenen modernen Welt geboren und reagieren auf je unterschiedliche Weise auf die Verwerfungen dieser Zeit. Eine allgemeine Verunsicherung hat im 19. Jahrhundert um sich gegriffen. Die Realität der konkreten Welt will mit jener der wissenschaftlichen Erklärungen partout nicht mehr zusammenpassen. Die Bindung an die Realität ist locker geworden, und metaphysische Erklärungsmodelle greifen nicht mehr. Die Wirklichkeit ist zersprengt in immer kleiner werdende Bestandteile, die nicht mehr zueinander passen wollen - bis der Detektiv auf den Plan tritt. Er ist der wirklich moderne Magier, ein zutiefst säkularer Zeichendeuter, der Wirklichkeitspartikel in Indizien verwandelt und aus diesen eine konsistente Ordnung hervorzaubert. Er nimmt die Puzzlestücke und bringt sie in ein überzeugendes Bild.


Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. 
Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. 
Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2013. 515 S., Fr. 54.-.


 

Der Detektivroman entstand, das ist Boltanskis aufregende These, als gesellschaftliche Rückkehr zur Ordnung. Er verhilft der Realität wieder zu ihrem Recht. Auch wenn er dem Reich der Fiktion angehört, hat er eine gesellschaftliche Aufgabe. Er produziert die Fiktion einer konsistenten Deutung, deren Zauber die Leser in ihren Bann schlägt und dann auch ruhig schlafen lässt. Sherlock Holmes, dem ein erhellendes Kapitel gewidmet ist, führt diese magische Verwandlung der Welt in ein Reich der Zeichen und Indizien exemplarisch vor. Er ist in seiner Welt der Einzige, dem diese Deutungen gelingen wollen. Alle anderen schauen ihm nur staunend dabei zu. Ihnen will sich die neue Ordnung der Dinge einfach nicht zeigen.


Holmes ist der Hohepriester der neuen Ordnung der Welt und ihrer Auslegung. Das ist zugleich die metaphysische Dimension der Kriminalgeschichten, die nichts Geringeres unternehmen, als die Gesellschaft wieder zu kitten, die Risse in der Wirklichkeit wieder zu schliessen. Der Detektiv ist der Garant der Ordnung. Und dabei ist ihm alles wichtig: Alles kann in Zweifel gezogen werden, alles kann verdächtig sein - und alles verwandelt sich am Ende dann in Aufklärung. Der Fall ist aufgeklärt, und die Welt der Tatsachen, also alles dessen, was der Fall ist, hat eine rationale Konfiguration angenommen. Sherlock Holmes ist dabei zutiefst der viktorianischen Gesellschaft verpflichtet, deren Schichten er sorgfältig durchläuft und blosslegt, um sie dann umso effektiver wieder instand setzen zu können, wenn sie bedroht sind. Holmes verteidigt die Gesellschaft und kämpft gegen Verbrecher, die die Wirklichkeit zu manipulieren suchen. Denn jeder Verbrecher ist vor allem jemand, der einen Keil zwischen das scheinbar Wirkliche und die «reale Realität» treibt. Er ist die Inkarnation der Widersprüche, der Detektiv hingegen der intellektuelle Arbeiter, der den Widerspruch aus der Gesellschaft auszutreiben versucht. Er ist eine Art fiktionale Bewährungsprobe des Staates.


In der Welt des Kommissars Maigret, einige Jahrzehnte später, folgt die Gesellschaft bereits anderen Ordnungsmustern. Das französische Modell setzt dem Privatdetektiv einen Beamten entgegen, der immer schon Teil der institutionellen Ordnung ist. Wie ein säkularer Mönch, der einzig an gutbürgerlichem Essen, einem guten Glas und der bürgerlichen Welt mit ihren Tugenden und Lastern interessiert ist, widmet er sein Leben der Arbeit. Fälle werden bearbeitet, die Brillanz der Aufklärung eines Sherlock Holmes ist ihm fremd. Maigret ist Beamter und Soziologe durch und durch. Er löst die Fälle dadurch, dass die gesellschaftliche Welt ihm vertraut und durch fast nichts zu erschüttern ist. Maigret ist der fiktionale und zugleich institutionelle «Ort», an dem Gesellschaft und Staat, das private Leben samt seinen Interessen und staatliche Regeln einander durchdringen. Er ist die Inkarnation der gesellschaftlichen Ordnung, die er deshalb exemplarisch immer wieder neu bestätigt.

 

Das alles klingt nach einer beruhigenden Geschichte, die aus Mord und Totschlag Gesetz und Ordnung macht. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Hinter dem Rätsel, das gelöst werden kann, lauert der Verdacht, die Paranoia. Sie entsteht als klinisches Symptom zur gleichen Zeit wie der Kriminalroman und ist sein dunkler Schatten. Ihr Genre ist der Spionageroman, der überall Verschwörungen wittert und in dem ein geheimes Gesetz regiert. Während Holmes und Maigret wie ein gesellschaftlicher Kitt funktionieren, der die Realität mit dem Spiegelbild ihrer rationalen Deutung zusammenklebt, vermutet die Paranoia im Reich der Fakten nur den Vorschein einer anderen Ordnung. Alles ist zwielichtig, alle historischen Fakten sind nur Staffagen einer Bühne, auf der die Figuren als von einer zu entziffernden Regie manipulierte und bestimmte agieren. Der Verdacht regiert. Jeder steht unter Verdacht und kann ein Doppelagent sein. Die Gesellschaft wird fremdregiert.


Kritische Detektivin 

Der dritte und letzte Akt in diesem Drama zielt auf eine Katharsis der Soziologie. Sie soll vom Geist der Verschwörung befreit werden und doch ein Gesetz des gesellschaftlichen Geschehens aufzeigen. Auch sie sucht nach einer Ordnung der Gesellschaft, die von den Phänomenen abstrahiert. Sie kann dies nur tun, indem sie es von innen tut und dies zugleich so, als beziehe sie einen externen, unabhängigen Standpunkt. Die Soziologie ist eine Art von kritischer Detektivin, die weder die gesellschaftlichen Ordnungen affirmiert noch überall Verschwörungen vermutet. Der Weg dahin führt einmal quer durch die Abstraktion. So auch in diesem Buch, das im letzten Teil die historischen Indizien in eine ungleich sperrigere soziologische Metareflexion verwandelt. Das ist der Preis einer politischen Soziologie, die eine historische Bestandsaufnahme in eine kritische Gesellschaftsanalyse überzuführen sucht. Er ist nicht zu hoch.



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