Freitag, 26. September 2014

Maos Schreckensherrschaft.

Auf der Bühne der drei brutalsten Despoten des 20. Jahrhunderts fehlte noch Adolf Hitler: Mao Zedong und Josef Stalin, der den «Grossen Vorsitzenden» im Dezember 1949 in Peking besucht.
aus nzz.ch, 24.9.2014, 05:30 Uhr

Zwei neue Bücher über Mao Zedong
Schreckensherrschaft

von Sören Urbansky

Wer war Mao Zedong? Utopischer Revolutionär und allmächtiger Tyrann. Philosoph und Dichter. Schürzenjäger. Seit beinahe acht Jahrzehnten meisseln westliche Biografen am vielschichtigen Bild eines Mannes, der weder Teufel noch Heiliger war. Alles begann 1937 mit dem bald in viele Sprachen übersetzten Buch «Roter Stern über China» von Edgar Snow. Der junge amerikanische Journalist beschrieb darin seine Begegnungen mit Mao in der abgelegenen Gegend der Löss-Hochebene von Shaanxi und stilisierte Taten und Worte seines Protagonisten zu einer Alternative zum Sowjetkommunismus. Am Vorabend der 1966 beginnenden Kulturrevolution sank in westlichen akademischen Kreisen Maos Stern allmählich – in den politisierten Studentenkreisen freilich erst einige Jahre später.

Eine Biografie

Der kürzlich verstorbene Politologe und Sinologe Stuart Schram legte damals eine nüchterne und vielbeachtete Arbeit vor. Die eigentliche Entzauberung des «Grossen Steuermanns» begann jedoch erst nach dessen Tod: Sein Leibarzt Li Zhisui schilderte aus sicherer Distanz des amerikanischen Exils 1994 Maos Privatleben als einen Prozess aus kumulativer Korruption und Degeneration. Schliesslich fällten Jung Chang und Jon Halliday ihr von der Wissenschaft als überzogen kritisiertes Urteil: Sie wollen bereits in Maos Jugendjahren einen dämonischen Charakter ausgemacht haben.

Was gibt es nach alledem Neues über den Staatslenker und Privatmann Mao und seine Zeit zu berichten? Zwei unlängst ins Deutsche übertragene Bücher suchen neue Antworten: Alexander V. Pantsov und Steven I. Levine stützen sich in ihrer Biografie auf ein wenig erschlossenes Korpus russischer Archivquellen, das durch bis dato unbekannte Reden und Bemerkungen Maos frische Einblicke in das Leben des 1893 Geborenen gewährt. Die zentrale Neubewertung, die die beiden Autoren vornehmen, ist die bis anhin unterschätzte Loyalität des chinesischen Revolutionärs gegenüber Moskau. Zu Lebzeiten Stalins soll Mao ein getreuer Anhänger des Kreml-Despoten gewesen sein. Erst nach dessen Tod 1953 habe Mao es gewagt, auf Distanz zur sowjetischen Führung zu gehen und Moskaus Vorherrschaft im kommunistischen Lager infrage zu stellen.

Freilich unterschlagen die beiden in den Vereinigten Staaten lehrenden Historiker in ihrer Interpretation Maos frühe Suche nach einem chinesischen Weg, der – anders als derjenige der Kommunisten in der Sowjetunion – etwa Bauernarmeen kannte. Erst, als sich deren Erfolg abzeichnete, wurden sie von Stalin «abgesegnet». Insgesamt bieten Levine und Pantsov wenig Neues: Zu selten verlässt ihre Darstellung die ereignisgeschichtliche Ebene. Die beiden wärmen altbekannte Anekdoten wieder auf, wie jene vom sino-sowjetischen Gipfeltreffen in Maos privatem Swimmingpool 1957, und verirren sich in belanglosen Exkursen. Muss der Leser wirklich en détail erfahren, wann der Kettenraucher Mao die Marken «Chesterfield» und «Xiongmao» («Panda») rauchte? Und dann, im fast schon kruden Nachwort, heisst es über die Menschen im heutigen Peking: «Sie drängeln sich lautstark auf den Einkaufsstrassen, starren ausländische Touristen an und lassen auf dem Tiananmen-Platz Drachen steigen.»

«Der Grosse Sprung»

Wenigstens erahnen wir aus diesen Zeilen, wie viel glücklicher sich heute die Menschen in Chinas Kapitale wähnen müssen, verglichen mit den bitteren Jahren des «Grossen Sprungs nach vorn». Von dieser schrecklichen Zeit handelt Frank Dikötters Studie «Maos grosser Hunger». Angestachelt von Nikita Chruschtschews vollmundigem Versprechen, die USA schon in fünfzehn Jahren wirtschaftlich zu überflügeln, gab Mao 1958 die Devise aus, in gleicher Zeitspanne sowohl die alte Kolonialmacht Grossbritannien als auch den unter Chruschtschews Führung in Ungnade gefallenen grossen Bruder zu übertrumpfen. Ziel dieses keine Rücksicht auf die fragile Agrarökonomie nehmenden ideologisch-politischen Experiments war die Neuorganisation der schier unendlichen Arbeitskraft der Volksrepublik, um Industrie und Landwirtschaft zu fördern.

Millionen Menschen wurden in wahnwitzigen Infrastrukturprojekten versklavt: Sie versetzten Berge oder legten Staudämme an mit dem Ziel, ödes Land in fruchtbare Felder zu verwandeln. Während Bauern Wassergräben aushoben oder in dilettantisch errichteten Hochöfen Kochtöpfe, Sicheln und anderes unentbehrliches Hausgerät zu wertloser Stahlschlacke schmolzen, verrottete die Ernte auf den Feldern. Der illusionäre Traum vom «Grossen Sprung» in ein kommunistisches Schlaraffenland mündete in einem Massensterben epischen Ausmasses. Es war eine gigantische Verschwendung von Ressourcen, eine enorme Vernichtung von Privateigentum und die Zerstörung zahlloser Familienhaushalte.

Millionen Tote

In seiner bereits 2010 auf Englisch erschienenen Sozialgeschichte zeichnet Dikötter die Komplexität menschlichen Verhaltens in Katastrophenzeiten nach und zeigt, wie Zwang, Terror und systematische Gewalt die wesentlichen Elemente des «Grossen Sprungs» wurden. Wenngleich der Tod selten das intendierte Ziel war, wurde Hunger sehr wohl als Waffe eingesetzt, um jene «Klassenfeinde» zu bestrafen, die nicht Schritt hielten mit den Arbeitsnormen oder sich weigerten, sie zu erfüllen. Auch Dikötter stützt seine Arbeit auf neue Quellen. Anders als Levine und Pantsov gelingt dem in Hongkong lehrenden Historiker indes eine nüchterne Bestandsaufnahme des Grauens: Vergiftung durch Sägemehl, Holzpulpe, Süsswasseralgen und andere Ersatznahrung; Tod durch Ruhr, Fleckfieber und Krankheiten; Handel von Menschenfleisch auf dem Schwarzmarkt; Aussetzen der eigenen Kinder; Sex für eine halbe Schale Reis; Selbstmord . . .

Der Blutzoll, den diese wohl barbarischste «Revolution» Maos forderte, hat seit langem unter Historikern einen Bieterwettbewerb um die Zahl der Opfer ausgelöst: Dikötter übertrumpft mit wenig überzeugenden Argumenten die bisher gängigen Schätzungen und spricht von «mindestens 45 Millionen Menschen», die «einen unnötigen Tod» zwischen 1958 und 1962 fanden. Anders als Dikötter wählen Pantsov und Levine diesbezüglich den salomonischen Weg: Sie vermeiden eine konkrete Zahl und verweisen lediglich darauf, dass Mao neben Stalin und Hitler ein Platz auf der Bühne der grössten Despoten des 20. Jahrhunderts gebührt.

Frank Dikötter: Maos grosser Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 526 S., Fr. 39.90.
Alexander V. Pantsov, Steven I. Levine: Mao. Die Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 992 S., Fr. 45.90.

Nota.

Nachdem die chinesische KP sich auf Weisung Stalins erst der KuoMinTang unter Tschiang Kai Schek unterworfen (und sogar einverleibt) hatte, war sie von ihm blutig unterdrückt worden; worauf hin sie  auf Stalins Geheiß dasselbe Manöver mit der Linken KMT von Wang Jingwei wiederholte - um von jenem prompt gleichfalls blutig unterdrückt zu werden. Von irgendeiner Opposition Maos gegen die selbstmörderische Unterwerfuung unter die "nationale Bourgeoisie" ist nichts bekannt. Da er beide Massaker überlebt hatte, musste er sich mit den verbliebenen Getreuen irgendwie in Sicherheit bringen. Das ist die wahre Geschichte des "langen Marschs". Davon, dass Mao nach einem "chinesischen Weg" gesucht hätte, kann keine Rede sein. Er wurde ihm aufgezwungen.
JE

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