Freitag, 9. Januar 2015

Europäischer Sonderweg?

Karl V.
aus Badische Zeitung, 7. 1. 2015

Ein – guter – europäischer Sonderweg
Joachim Whaleys monumentale Geschichte des Heiligen Römische Reichs Deutscher Nation preist den Föderalismus.

von Wulf Rüskamp

Zu den jüngeren Erfahrungen einiger europäischer Nationen gehören separatistische Bewegungen: Was seit spätestens dem 19. Jahrhundert zusammenzugehören schien, strebt nun auseinander – Katalonien soll sich von Spanien trennen, die Lombardei von Italien, Flandern von Wallonien und – wenn auch durch Volksabstimmung vorerst abgewendet – Schottland von England. In der Nation aber, der nachgesagt wird, sie sei eine verspätete, finden sich solche Abspaltungsbewegungen nicht. Der viel beschworene deutsche Sonderweg – hat er also doch nicht zwangsläufig in den Nationalsozialismus geführt, sondern eben auf längere Sicht betrachtet zu einem föderalen Staatsmodell, das sich zumindest für Europa als dauerhafter und stabiler erweist als das Modell der zentralistisch organisierten Nation?

Es gibt eine Reihe deutscher Historiker, für die der Föderalismus die besondere politische Qualität der Bundesrepublik Deutschland ausmacht. Lebt darin nicht die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation fort, das angeblich 1806 für immer untergegangen ist und das man seinerzeit für eine leere Hülle ohne Inhalt hielt?

Krisenfest und flexibel: das Heilige Römische Reich

Joachim Whaley, Professor für deutsche Geschichte und Geistesgeschichte an der Universität Cambridge, ist offenkundig fasziniert von diesem Reich in der Mitte Europas – und er teilt nicht die von vielen deutschen Historikern gepflegte Auffassung, die Entwicklung dieses Reichs sei ein lang hingezogener Untergang seit den Höhepunkten ottonischer oder staufischer Kaisermacht. Seine monumentale, zweibändige Darstellung der Reichsgeschichte von Maximilian I. bis Franz II., also der Regierungszeit der Habsburger (1493–1806), ist durchzogen von der Überzeugung, dass sich die Konstruktion des Kaiserreichs als höchst krisenfest und flexibel erwiesen hat, so sehr sie auch beschäftigt war mit der Balance zwischen den auseinander strebenden Interessen der Landesfürsten einerseits und des Kaiserhauses andererseits.

Das Reich hat zugleich verkraftet, dass seine Grenzen sich immer wieder veränderten, dass es im Zugriff ausländischer Mächte wie vor allem Frankreich auch manches Fürstentum verloren hat – doch der Kern der "teutschen Libertät" blieb erhalten. Dieser Kern hat sogar tiefe Konflikte wie die Reformation oder die daran anschließende Katastrophe des 30-jährigen Kriegs überstanden. Denn bei allem konfessionellen Streit (der rasch politisch ausgenutzt wurde) und allen Kriegsschlachten war das Ziel seitens der deutschen Konfliktparteien als Ganzes nie das Ende des Reichs gewesen – es blieb bei der Frage, wie sich die Macht verteilt in diesem übergreifenden Gebilde.

Der französische König ebenso wie sein schwedischer Kollege hatten sicherlich andere Interessen – doch solche äußere Bedrohungen, zu denen auch die Angriffe des Osmanischen Reiches oder die Auseinandersetzungen mit dem römischen Papst zählten, haben, wie Whaley zeigt, die Einheit zwischen Kaiser und Landesfürsten stets eher gefestigt. Eine Einheit, die auf den Kompromiss baute, auf stetes Aushandeln, selbst wenn sie mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 oder dem Westfälischen Frieden von 1648 einen vertraglich festgeschriebenen Rahmen erhielt. Damit wurden Rechts- und Friedensordnungen gestiftet, die die deutschen Territorien als politische Einheit zusammenhielt.

Den Historikern, vor allem den national gestimmten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, fiel es schwer, diesem Gebilde den Charakter eines Staates zu bescheinigen. Whaley sieht dagegen sogar so etwas wie ein Nationalbewusstsein, das die Länder des Reichs verband. Gleichwohl fehlte ihm der Expansionismus anderer Nationen, denn es verfügte über kein stehendes Heer. Aber es funktionierte im Notfall als Verteidigungsbündnis – bis Napoleon es überrannte.

Whaleys detailreiche Darstellung ist vom Umfang, aber nicht von ihrem klar gegliederten Aufbau her eine Herausforderung für ein Publikum, das solche Epochen gern anhand von 111 Fragen konsumiert. Whaleys Interesse liegt nicht darin, dem Leser zu vermitteln, wie fremd uns spätes Mittelalter und frühe Neuzeit in ihrer Kommunikation, in ihrer Politik und ihrem Selbstverständnis sind. Die Sorgfalt, mit der er die Konstellation der Lehensherrschaft und eines Reiches entwickelt, dessen Grenzen keineswegs mit den Territorialgrenzen seiner einzelnen Landesfürsten übereinstimmten, belegt, dass er um diesen historischen Abstand weiß. Er will aber dem Leser das föderale Gebilde nahebringen, das auch nach der Gründung souveräner Staaten von Napoleons Gnaden als Idee fortbestand.

Und zwar als eine Idee, die noch heute die Bundesrepublik Deutschland trägt und zu einem Plan für Europas Zukunft anregen könnte, wie Whaley am Ende schreibt. Selbst wenn das zu utopisch klingen mag: Sein großes Werk legt gut begründet Widerspruch ein gegen eine nationalistische Geschichtsschreibung, die nur Niedergang und Schwäche entdecken konnte, wo sich nach Whaleys Überzeugung "eine Kultur der Freiheit und der Achtung vor den Gesetzen ebenso wie eine nationale Identität und föderale Mentalität" entwickelt haben – ein positiver Sonderweg.

Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Bd. 1: 1493–1648, Bd. 2: 1648–1806. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2014. 836 und 846 Seiten, zusammen 129 Euro.


Nota. - Für Europa war das Heilige Reich ein Segen? Höchstens vorläufig. Für Deutschland war es nämlich ein Desaster - und darum wurde es eines für Europa und den Rest der Welt; Fortsetzung folgt morgen.
JE

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