Mittwoch, 11. März 2015

Asiens Aufstieg.


aus nzz.ch, 11.3.2015, 06:00 Uhr

Eine Weltregion vor der Reifeprüfung
Asien lernt schwimmen

von Christian Weisflog, Singapur 

Mit asiatischen Augen gesehen wirkt Europa wie eine altersmüde Greisin. Die fernöstlichen Emporkömmlinge stehen aber selbst vor existenziellen Reifeprüfungen. ...

Singapur, das Disneyland des real existierenden Staatskapitalismus, scheint wie gemacht, um über die Welt und ihren Wandel zu sinnieren. Als Zufallsprodukt der britischen Entkolonialisierung mauserte sich der multikulturelle Inselstaat in den sechziger und siebziger Jahren zur marktfreundlichen Antithese gegen Rotchina. «Kommunismus, das ist wie die Pocken », sagte Singapurs Gründervater Lee Kuan Yew. Die Medizin gegen die roten Pocken sei «wirtschaftliches Wachstum, Fortschritt und eine gerechte Verteilung des Wohlstandes». Sehr vieles davon hat Singapur erreicht. Aber das Erreichte ist nicht leicht zu erhalten, nun da selbst formalkommunistische Regime wie China oder Vietnam im globalen Wohlstands-Wettbewerb mitmischen, um ihre Macht zu mehren und zu legitimieren.

Wille zum Wandel

Wohin führt dieser Wettbewerb? Was sind die Chancen und Risiken für Asien, aber auch für die Welt? Und vor allem: Welche politischen und militärischen Folgen wird Chinas wirtschaftlicher Aufstieg haben? ...

Asiens rasanter Aufschwung, darin sind sich fast alle Experten einig, hat seinen Zenit längst nicht erreicht. Auch im reichen Singapur nicht. Im Jahr der Erlangung der Unabhängigkeit – 1965 – betrug das Pro-Kopf-Einkommen im Stadtstaat 300 Dollar, heute sind es über 60 000. Begonnen hatte alles mit dem Bau einfacher Elektronikgeräte – Radios und Schwarz-Weiss-Fernsehern. Heute stellt Singapur etwa eigene Satelliten her, betreibt ein grosses Forschungszentrum für Biotechnologie und entwickelt mit einem deutschen Unternehmen ein energiesparendes Verfahren zur Entsalzung von Meerwasser.

Mit wie viel Machbarkeitsglauben der Wandel vorangetrieben wird, zeigt das Beispiel von Jurong Island: Sieben kleine Inseln im Meer schüttete die Regierung zu einer grossen Insel auf, um dort die Petrochemie anzusiedeln. Weil der Platz im Zwergstaat knapp ist, wurde 130 Meter unter dem Meeresboden eine riesige Felskaverne zur Lagerung des Erdöls gegraben.

Bei der Raumnutzung versucht die autoritäre Regierung die Grenzen des Möglichen zu dehnen: Um weiter wachsen zu können, hat Singapur rund ein Viertel seines Territoriums dem Meer abgerungen. Auch das schillernde Wahrzeichen der Stadt, das Marina Bay Sands mit seinem Palmengarten auf dem Dachstock in 200 Meter Höhe (s. o.), ist auf Neuland gebaut. Zurzeit verlegt der zweitgrösste Containerhafen der Welt seine Terminals in den Westen der Insel, damit die imposante Skyline in Singapurs Zentrum weiter spriessen kann. Und selbst utopisch anmutende Ideen werden ernsthaft geprüft: «Wir denken über den Bau von unterirdischen Städten nach», meint Keat Chuan Yeoh, Direktor der staatlichen Agentur für Wirtschaftsentwicklung (EDB).

Yeoh blickt optimistisch in die Zukunft. In den nächsten 15 Jahren werde das weltweite Wachstum der Mittelklasse zu 80 Prozent in Asien stattfinden, meint er. Motor dieser Entwicklung ist dabei nicht nur China, sondern sind auch die mit Singapur in der Asean-Gruppe vereinten Länder wie Vietnam oder Malaysia. Weil die Lohnkosten in diesen jungen Gesellschaften wesentlich tiefer sind als in China, verlegen Unternehmen ihre Produktion nach Südostasien. Seit 2013 fliessen mehr ausländische Direktinvestitionen in die Asean-Länder als nach China. Davon profitiert auch Singapur: Wegen der hohen Rechtssicherheit, der guten Infrastruktur und der geringen Umweltverschmutzung etabliert die grosse Mehrheit der regional tätigen Unternehmen ihren Hauptsitz auf der zivilisierten Insel. Deshalb wird Singapur auch gerne «Asien für Anfänger» genannt.

Um mit dieser Entwicklung mithalten zu können, muss China wiederum der Sprung von der billigen Werkbank hin zum Hersteller von innovativen Qualitätsprodukten gelingen. Auch hier sind die Erwartungen optimistisch. Andreas Barner, der CEO des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim, ist beeindruckt von Chinas wachsenden Investitionen in Forschung und Entwicklung. In der Region Schanghai beispielsweise würden 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Forschung gesteckt. «Das ist einer der höchsten Werte der Welt», meint Barner, dessen Firma selbst ein Labor und eine Produktionsstätte in China betreibt. «Diese Investitionen werden die Welt dramatischer verändern, als wir es bis jetzt erwarten.»

Angesichts dieser asiatischen Dynamik wirkt Europa wie eine altersmüde Greisin, deren reiches Erbe durch einen islamistischen Flächenbrand im Süden und ein revanchistisches Russland im Osten bedroht ist. Aber bei aller Zuversicht ziehen auch am asiatischen Himmel erste Wolken auf. Siong Guan Lim, der Präsident des Staatsfonds GIC, spricht offen von einem Vertrauensverlust der Singapurer Bevölkerung gegenüber ihrer Regierung. Obwohl Singapur reich sei, handle die Regierung immer noch so, also ob sie arm sei. Das Volk indes verlange nach einer grosszügigeren Ausgabenpolitik. Diesem Druck müsse die Regierung standhalten, meint Lim. Sonst ende Singapur wie Griechenland und fast alle anderen europäischen Länder, wo die Politiker den Bürgern bei jeder neuen Wahl noch grössere Geschenke versprächen.

Singapurs Regierung steckt allerdings in einem Dilemma. Früher oder später wird sie ihren Bürgern mehr Freiheit und Mitbestimmung gewähren müssen. Denn sie erzieht sie in den Schulen bereits zu selbständigerem, kreativerem Denken, um die Innovationskraft der Wirtschaft zu fördern. Solche Menschen wollen irgendwann auch politisch mitreden.

Bereits jetzt gärt es in der Gesellschaft, wobei das Erfolgsmodell einer offenen und leistungsorientierten Volkswirtschaft infrage gestellt wird. Obwohl die Singapurer eine Nation von Einwanderern sind, wächst der Fremdenhass. Junge Universitätsabgänger beklagen sich, dass Ausländer ihnen die guten Stellen wegnehmen Die Strudel der Moderne

Auch im grossen China schafft die rasante wirtschaftliche Veränderung neue Unsicherheiten. «Die Menschen sind verwirrt», sagt Professor Tony Liu von der Pekinger Universität. Er erinnert an den Leitspruch von Deng Xiaoping, dem Vater der chinesischen Reformen: China solle den Fluss überqueren, indem es sich von Stein zu Stein vortaste. «Aber jetzt ist das Wasser zu tief, es gibt keine Steine mehr.»

China lernt schwimmen. 

«Reichtum war früher etwas sehr Schlechtes, heute ist es gut.» Die sozialistischen Werte seien überholt, aber eine neue Wertebasis fehle, erklärt Professor Liu: «Wir fragen uns, sollen wir direkt zur westlichen Demokratie übergehen oder zu etwas traditionell Chinesischem zurückkehren?»

Demokratie in China hält Liu zurzeit für keine gute Idee. Die kollektivistisch denkenden Menschen verstünden nicht, für ihre Rechte zu kämpfen, und seien einfach zu manipulieren. Ein demokratischer Prozess könnte zu einem undemokratischen Resultat führen: «Ich weiss nicht, wer eine Wahl gewinnen würde, aber der Nationalismus wäre sicher eine verführerische Ideologie.» Eine Krankheit ähnlich schlimm wie die roten Pocken. Europa hat diese Erfahrung bereits gemacht.

Der Verlauf dieses Wertewandels dürfte darüber entscheiden, ob der Wettbewerb um Wohlstand auch dann friedlich verläuft, wenn der wirtschaftliche Aufschwung ins Stocken gerät. China und seine Nachbarn liegen sich wegen zahlreicher Territorialkonflikte in den Haaren, bei denen es auch um den Zugang zu Bodenschätzen geht. Alle rüsten militärisch auf – die Nachbarn auch mit amerikanischer Hilfe. Insofern muss nicht nur China, sondern ganz Asien schwimmen lernen.



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