Freitag, 3. April 2015

Der Wiedergänger.

Stalins Büste auf seinem Grab an der Kremlmauer. In den Köpfen vieler Russen ist der Generalissimus immer noch sehr lebendig.
aus nzz.ch, 2.4.2015, 11:11 Uhr

Populärer Tyrann
Stalins erneuter Frühling
Putins Propaganda kommt in den Köpfen der Russen an. Das zeigt auch eine neue Umfrage zu Stalins historischem Vermächtnis. Immer mehr Menschen in Russland bewerten die Leistung des Tyrannen positiv.

von Christian Weisflog 

Politische «Säuberungen», Kollektivierung, Staatsterror – unter Josef Stalin beging die sowjetische Führung einen Massenmord am eigenen Volk. Vermutlich kostete seine totalitäre Politik rund 20 Millionen Menschen das Leben. Trotzdem wächst die Popularität des «Führers aller Völker» im heutigen Russland. Laut einer neuen Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums ist eine relative Mehrheit (45 Prozent) der Russen der Meinung, dass sich die Opfer des Volkes unter Stalin gelohnt hätten. Im Jahr 2008 vertraten «nur» 27 Prozent diesen Standpunkt und waren damit klar in der Minderheit.

Folge von Putins Propaganda

Für den Direktor des Levada-Zentrums, Lew Gudkow, sind die Resultate der Umfrage eine direkte Folge der staatlichen Propaganda und Regierungsführung unter Wladimir Putin: «Es findet eine Art Restaurierung des sowjetischen Systems statt.» Der Kern sei dabei die Idee einer totalen Verantwortungslosigkeit des Staates gegenüber den Bürgern. Gudkow spricht von einem «Kult des Staates».

Demonstration am Tag der russischen Einheit: Stalins Beliebtheit nimmt in Russland wieder zu - vor allem, aber nicht nur bei der älteren Bevölkerung.Demonstration am Tag der russischen Einheit: Stalins Beliebtheit nimmt in Russland wieder zu - vor allem, aber nicht nur bei der älteren Bevölkerung

Als Reaktion auf eine wachsende Proteststimmung in der Bevölkerung habe sich dieser Kult in den vergangenen Jahren noch verstärkt, meint Gudkow . Putins Regime reagierte auf die grossen Demonstrationen 2011 mit härteren Repressionen gegen Andersdenkende und einer verschärften antiwestlichen Rhetorik. Vor diesem Hintergrund wächst unterschwellig auch der Stalin-Kult. Zwar hütet sich die Kreml-Propaganda davor, Stalin explizit zu glorifizieren. Aber die Grundidee der Propaganda – die geschlossene, von Feinden umzingelte Gesellschaft – ist stalinistisch.

Gezielte Rehabilitierung.

Keiner von Stalins Nachfolgern schaffte es, den Mythos des Generalissimus ganz zu beerdigen. Auch unter dem Reformer Michail Gorbatschow und nach dem Untergang der Sowjetunion unter Boris Jelzin gab es keine umfassende Destalinisierung. Ein Strafprozess über die Verbrechen des sowjetischen Regimes scheiterte 1992. Allerdings war Stalin damals weit weniger populär als heute. Ende der achtziger Jahre sah nur jeder zehnte Russe in Stalin eine grosse historische Persönlichkeit, 2012 war es bereits jeder zweite. Seit Putin im Jahr 2000 an die Macht gekommen sei, habe es eine gezielte Rehabilitierung des Stalinismusgegeben, hielt Lew Gudkow vor drei Jahren in einem wissenschaftlichen Artikel fest.

Auch für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine ist Stalin zur Ikone geworden. Stalins zunehmende Popularität, Putins wachsender Autoritarismus und Moskaus aggressive Aussenpolitik sind alles Facetten einer logischen politischen Entwicklung.
Auch für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine ist Stalin zur Ikone geworden. Stalins zunehmende Popularität, Putins wachsender Autoritarismus und Moskaus aggressive Aussenpolitik sind alles Facetten einer logischen politischen Entwicklung.

«Putin startete ein umfassendes Programm, um die Gesellschaft ideologisch umzuerziehen», schreibt Gudkow. Dabei ging der Kreml sehr vorsichtig und doppelbödig vor. Putins PR-Strategen versuchten die stalinistischen Verbrechen nicht zu leugnen, aber ihre Bedeutung zu minimieren. Auch Putins Handlungen und Äusserungen gegenüber Stalin sind widersprüchlich. So besuchte er 2007 den Schiessplatz in Butowo, wo Stalins Geheimdienst während der «grossen Säuberungen» über 20'000 Menschen erschossen hatte. Putin sprach von einer Tragödie, die es nie zu vergessen gelte. 2010 kniete der Kremlchef in Katyn nieder, wo Stalin 1940 polnische Offiziere hatte massakrieren lassen.



Diese antistalinistischen Signale werden jedoch durch andere Entscheide überschattet. Zu Beginn seiner ersten Amtszeit machte Putin die Melodie der unter Stalin eingeführten sowjetischen Hymne zur russischen Nationalhymne. 2007 erschien ein Schulbuch, das die stalinistischen Verbrechen verharmloste und Stalin als fähigen Modernisierer darstellte.

Glorifizierung des Zweiten Weltkriegs

Ein Faktor für Stalins zunehmende Popularität dürften die von Jahr zu Jahr pompöseren Feierlichkeiten am 9. Mai zum sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg spielen. Die überwältigende Bedeutung, die diesem Sieg und Stalin als Oberbefehlshaber zugemessen wird, erkläre, warum eine eindeutige Verurteilung von Stalin in Russland unmöglich ist , meint die Politologin Maria Lipman.

Auch die unterschiedliche Geschichtsdeutung spaltet Russland und die Ukraine. Während immer mehr Menschen in Russland für Stalin Sympathien hegen, gedenken die Ukrainer (Bild) jedes Jahr den Opfern des Holodomors - einer von Stalin künstlich herbeigeführten Hungersnot, die Millionen das Leben kostete.
Auch die unterschiedliche Geschichtsdeutung spaltet Russland und die Ukraine. Während immer mehr Menschen in Russland für Stalin Sympathien hegen, gedenken die Ukrainer (Bild) jedes Jahr den Opfern des Holodomors - einer von Stalin künstlich herbeigeführten Hungersnot, die Millionen das Leben kostete.

Stalins Widersprüchlichkeit spiegelt sich in den Umfrageresultaten. Vor drei Jahren bezeichneten 50 Prozent der Befragten Stalin als «weisen Führer». Gleichzeitig nahmen ihn aber 68 Prozent als «grausamen Tyrannen» wahr. In der postsowjetischen Psyche muss dies aber kein Widerspruch sein. In dieser Psyche «ist nationale Grösse unteilbar mit brutaler Gewalt verbunden», schreibt Lipman.

Moskau als Ausnahme 

Am weitesten verbreitet ist die Liebe zu Stalin in der ärmeren, älteren, schlecht gebildeten und ländlichen Bevölkerung. In der Umfrage des Levada-Zentrums fällt aber vor allem die Ausnahmestellung von Moskau auf. Ausgerechnet im politischen Machtzentrum wird Stalins historische Rolle immer noch mehrheitlich negativ bewertet. Nur 13 Prozent der Moskauer wünschten sich hier die Errichtung eines Stalin-Denkmals zum 70. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg. In grossen Provinzstädten mit über einer halben Million Einwohnern sieht das Bild bereits ganz anders aus. Hier würden knapp 40 Prozent ein Stalin-Denkmal begrüssen. Gudkow erklärt diesen tiefen Graben mit der wirtschaftlichen Struktur und dem Zugang zu unterschiedlichen Informationsquellen. Viele Provinzstädte seien immer noch geprägt durch sowjetische Industriebetriebe, die oft auch für die Rüstungsindustrie tätig seien. In Moskau habe der Bürger zudem Zugang zu viel mehr Informationsquellen.

Zynische Elite

Auffällig ist, dass die Popularität Stalins bei den Reichen relativ gering ist. Nur gerade 15 Prozent der Befragten aus dieser Schicht bringen Stalin Sympathie entgegen. Bei Leuten, die ausreichend bis gut verdienen, liegt die Zustimmung für Stalin bereits bei über 30 Prozent. Wie aber ist es möglich, dass ein Staat den stalinistischen Geist propagiert, wenn seine wohlhabendste Schicht diesen mehrheitlich ablehnt? Gudkow erklärt es damit, dass die Elite die autoritäre Ideologie auf zynische Art als Machtinstrument benutzt, im Glauben, diese jederzeit unter Kontrolle halten zu können.

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