Samstag, 18. April 2015

Nicht die Not, sondern der Überfluss.

aus derStandard.at, 25. Dezember 2014, 18:25

Die Weltreligionen erwuchsen aus einem neuen Überfluss
Nicht politisch komplexe Gesellschaftsstrukturen, sondern materielle Sicherheit ließen die großen Religionen entstehen

Paris - Die Wurzeln der Weltreligionen, wie wir sie heute kennen, reichen weit in die Zeit zurück. Buddhismus, Islam, Hinduismus, Judaismus und damit auch das Christentum basieren auf einem Spiritualismus, auf asketischen Lebensregeln und moralischen Prinzipien, die unabhängig voneinander in drei unterschiedlichen Regionen Eurasiens auftraten. Dieses parallele Erblühen neuer religiöser Denkrichtungen wurde bedingt durch die Entstehung von großen, politisch komplexen Gesellschaften, so zumindest lautet die gängige Annahme. Eine Gruppe von Wissenschaftern sieht dies allerdings anders: Auf Basis eines komplizierten statistischen Modells, kombiniert mit historischen und psychologischen Daten, kamen sie zu dem Schluss, dass es der verbesserte Lebensstandard war, der den grundlegenden Wandel im Denken herbeführte.

Heute erscheint es selbstverständlich, dass Religion auf spirituellen und moralischen Ideen und Regeln basiert. Doch das war nicht immer so. Unter Jägern und Sammlern und frühen Stammesgesellschaften etwa drehte sich Religion vor allem um Rituale, Opfergaben, Tabus und Kulthandlungen, die Böses oder allgemeines Unglück abwehren sollten. Zwar findet man all das auch bei den heutigen Religionen mehr oder weniger ausgeprägt, doch kamen in der Zeit zwischen 500 und 300 vor unserer Zeitrechnung wesentliche Element neu dazu. Während dieser sogenannten Achsenzeit wurde unter anderem das Fundament der modernen religiösen Vorstellungen gelegt - und zwar unabhängig voneinander im östlichen Mittelmeergebiet, auf dem indischen Subkontinent und im heutigen Nordost-China.

Askese statt täglicher Kampf ums Überleben

"Die neuen Doktrinen, die damals entstanden, betonten erstmals die individuelle Fähigkeit zur 'persönlichen Transzendenz', also die Vorstellung, dass es für den Menschen unabhängig vom materiellen Erfolg einen Lebenssinn gibt", meint Nicolas Baumard von der Ecole Normale Supérieure in Paris. "Die Grundlagen liegen in moralischem Verhalten und die Kontrolle der eigenen materiellen Bedürfnisse durch Entsagung und mitfühlendes Handeln."

Bisher war der Großteil der Fachwelt der Meinung, große Gesellschaften bildeten diese moralisierenden Religionen heraus, weil das ihr Funktionieren wesentlich verbessern würde. Doch Baumard und seine Kollegen widersprechen und nennen das Alte Ägypten oder das römische Imperium als Gegenbeispiele. In diesen hochorganisierten Gesellschaften spielten vielfach quasi "nicht-moralische" Götter wichtige Rollen.

Im Rahmen ihrer Studie, die im Fachjournal "Current Biology" erschienen ist, kombinierten die Forscher statistische Methoden mit psychologischen Theorien, die auf Experimenten basieren. Es zeigte sich, dass erst ein gewisser Überfluss an Ressourcen, die unmittelbar lebenswichtig sind, zu den grundlegenden Veränderungen im Denken geführt hatte. Nach den Berechnungen der Wissenschafter kam es in den antiken Gesellschaften zu einem geradezu plötzlichen Erblühen neuer religiöser Denkrichtungen, sobald den einzelnen Mitgliedern eine tägliche Energieration von rund 20.000 Kilokalorien zur Verfügung stand. Etwa ab diesem Wert könne man von einer gewissen materiellen Existenzsicherheit sprechen, die auch eine Planung etwa der Nahrungsmittel- versorgung über die unmittelbare Zukunft hinaus ermöglichte, glaubt Baumard.

Neuer Seelenfriede

"Das mag zwar heute immer noch recht bescheiden klingen, doch damals war dieser 'Seelenfriede', der mit einem solchen Überfluss einhergeht, völlig neu", erklärt Baumard. "Die Menschen der Stammesgesellschaften, ja selbst der archaischen Großreiche, erlebten regelmäßige Hungersnöte und verheerende Seuchenausbrüche. Erst als während der Achsenzeit die Bevölkerung anwuchs und die Urbanisierungsrate stieg, brachen zumindest für einige Gesellschaftsschichten bessere Zeiten an."

Die Wissenschafter fanden Hinweise, dass dieser Übergang mit einem Wandel zusammenfällt, der von einer "schnellen", ausschließlich auf die unmittelbar Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Lebensweise zu einer Existenz führte, die auf längerfristige Investitionen ausgerichtet ist. (tberg)

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