Samstag, 22. August 2015

Jetzt aber wirklich: Ein neues Maschinenzeitalter.


aus nzz.ch, 21.8.2015, 05:30 Uhr

Automatisierung
Ein neues Maschinenzeitalter
In der Informatik sind in jüngster Zeit einige grundlegende technische Durchbrüche gelungen. Die Automatisierunggewinnt neuen Schwung. Vollbeschäftigung wird es wohl nicht mehr geben, die Einkommensunterschiede werden zunehmen.

Von Stefan Betschon

Wenn von Computern die Rede ist, muss man meist nicht lange warten, bis das Wort «Revolution» fällt. Die Computernutzer konnten sich an die ständige Veränderung gewöhnen, an den permanenten Umsturz. Doch jetzt, so behaupten Experten, jetzt wird alles anders. Jetzt beginnt – nein, nicht die Revolution der Revolution –, jetzt beginnt die Revolution der Revolution der Revolution. Jetzt verändert sich das Anderswerden, jetzt kippt das System. Jetzt beschert uns der computertechnische Fortschritt nicht mehr nur bessere Computer, sondern eine neue Welt. Eine Welt mit neuen Annehmlichkeiten und neuen Herausforderungen, mit grossen Einkommensunterschieden und massenhafter Arbeitslosigkeit.

«IT Doesn't Matter»

Vor 50 Jahren stellte Gordon Moore, Mitbegründer von Intel, die Vermutung auf, dass sich die Integrationsdichte von Prozessoren ungefähr alle zwölf Monate verdopple. Die Beobachtung – bekannt geworden als Mooresches Gesetz – verheisst eine rasche Steigerung der Leistungsfähigkeit von Computern.

Computer begannen sich in den Unternehmen in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren zu verbreiten. Mit dem Personal Computer begann in den 1980er Jahren – so schrieb der Soziologe Manuel Castells – die «Revolution der informationstechnologischen Revolution», nun konnten sich auch Privatanwender einbringen bei der Weiterentwicklung dieser Technik, konnten eine sich immer schneller drehende «Rückkoppelungsspirale zwischen Innovation und deren Einsatz für weitere Innovationen» in Gang setzen

Computer vermehrten sich rasch, eroberten sich immer neue Anwendungsbereiche, wurden immer schneller. Gleichzeitig aber beobachteten amerikanische Ökonomen in den 1980er Jahren eine Abschwächung des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Ein seltsames Zusammentreffen, ein Paradox. «Computer finden sich überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken», lautet ein Bonmot, das der Nobelpreisträger Robert Solow 1987 formulierte.

Computer seien nicht wichtig – «IT Doesn't Matter» –, behauptete 2003 in der «Harvard Business Review» ein Journalist namens Nicholas Carr. Die Informatik sei wie Elektrizität und Eisenbahnverkehr eine unsichtbare «Infrastrukturtechnologie», so die These, die bald auch in Buchform für aufgeregte Diskussionen sorgte. Computer könnten einer einzelnen Firma keine strategischen Wettbewerbsvorteile bieten. Carr rät den Firmen, ihre Informatikinvestitionen zu reduzieren.

Technisch versierte Jungunternehmer, die Gründer von Amazon, Facebook, Google und anderen Internetfirmen, haben nicht auf Carr gehört. Sie haben nach der Jahrtausendwende gewaltige Summen in den Aufbau einer komplexen IT-Infrastruktur investiert. Sie haben nicht einfach eingekauft, was der Markt zu bieten hatte, sondern sie haben neuartige Systeme selber entwickelt. Um in Dutzenden von Datenzentren rund um die Welt für Milliarden von ungeduldigen Kunden Billionen von Datensätzen aufzubewahren, sahen sie sich gezwungen, völlig neue Methoden für die Datenverwaltung zu erfinden. Berauscht von ihren Erfolgen, haben sie sich auch an technische Probleme herangewagt, die mit ihren Geschäften nicht oder nur lose in Verbindung stehen, haben eine Stereoanlage entwickelt, die auf gesprochene Befehle reagiert, eine Virtual-Reality-Brille oder ein Auto, das ohne Fahrer fährt.

In dieses Auto von Google hat sich im Sommer 2012 in Kalifornien ein von der Ostküste angereister Ökonom gesetzt. Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, er ist begeistert und macht sich daran, ein Buch zu schreiben, um den Anbruch eines neuen Zeitalters zu verkünden: «The Second Machine Age: Work, Progress and Prosperity in a Time of Brillant Technologies» (2014). Erik Brynjolfsson, Professor an der renommierten MIT Sloan School of Management, hat sich in den 1990er Jahren hervorgetan mit nüchternen Publikationen, die mit klugen theoretischen Modellen und umfangreichem Datenmaterial einen positiven Zusammenhang zwischen Informatikinvestitionen und einer Zunahme der Arbeitsproduktivität aufzuzeigen versuchten. In dem Buch «Wired for Innovation» konnte er 2010 die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem sogenannten «Produktivitätsparadox» als beendet erklären. Zwar hätten Investitionen in Computertechnik vor 1995 keine messbaren Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität gehabt. Nach 1995 aber habe sich die Produktivität von ihrer langfristigen Wachstumsrate von 1,4 Prozent pro Jahr gelöst und fast verdoppelt auf 2,6 Prozent. Zwischen 2001 und 2003 habe sich die Rate auf 3,6 Prozent erhöht.

Nach all den Jahren mit den Produktivitätsstatistiken hat Brynjolfsson im Google-Auto ein Erweckungserlebnis. In der Einleitung zu seinem jüngsten Buch, das er zusammen mit dem Ökonomen Andrew McAfee geschrieben hat, heisst es: «Während Jahren haben wir die Auswirkungen der Digitalisierung studiert, und wir glaubten, wir hätten ein recht gutes Verständnis von ihren Möglichkeiten und Grenzen. Aber während der vergangenen paar Jahre haben diese Techniken angefangen, uns zu überraschen.» Die technische Entwicklung habe einen Wendepunkt erreicht. «Es ist eine Wende zum Guten – Überfluss anstatt Knappheit, Freiheit anstatt Einschränkung –, aber eine, die uns schwierige Herausforderungen beschert und uns schwierige Entscheidungen abverlangt.»

Wo Menschen überlegen bleiben

S. B. Bei der Erforschung der künstlichen Intelligenz zeigte es sich im Verlauf der vergangenen sechzig Jahre immer wieder, dass Aufgaben, die dem Menschen leichtfallen (Gesichtserkennung, Mustererkennung, Autofahren), für Maschinen äusserst schwer zu lösen sind, während Dinge, von denen Menschen denken, sie seien schwierig – Schachspiel –, den Maschinen keine Mühe bereiten. Aufgrund dieser Beobachtung liegt die Annahme nahe, dass Tätigkeiten, die mit Mustererkennung zu tun haben, auch in Zukunft von Menschen ausgeübt werden, während Aufgaben, deren Lösungsweg sich mathematisch beschreiben lässt, in die Domäne der Maschinen gehören.

Diese Aufteilung wurde aber durch neueste technische Durchbrüche durcheinandergebracht. Es ist gelungen, Systeme zu entwickeln, die bei der Gesichtserkennung besser sind als ein Mensch; es gibt Computer, die ein Auto steuern können. Nach wie vor aber gilt, dass dort, wo Kreativität, Erfindergeist und Kommunikationsfähigkeit gefragt sind, Menschen den Maschinen überlegen sind.
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Durch Maschinen ersetzt werden:
Astronauten, Bankdirektoren, Bibliothekare, Buchhalter, Fliessbandarbeiter, Kassierer, Minenarbeiter, Nachtwächter, Portiers, Programmierer, Projektmanager, Radiomoderatoren, Taxifahrer, Tramkontrolleure
Nicht durch Maschinen ersetzt werden: 
Bildhauer, Coiffeure, Gärtner, Goldschmiede, Hauswarte, Kellner, Kunstmaler, Lyriker, Modedesigner, Opernsänger, Pfarrer, Primarschullehrer, Regisseure, Velomechaniker, Wissenschafter
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Wunder über Wunder

Plötzlich, so scheint es, haben Computer sehr viel dazugelernt. Doch Science-Fiction-Projekte wie das selbstfahrende Auto oder von IBM der Computer, der in einem TV-Quiz mit Trivialwissen glänzt, vernebeln den Blick. Ist es nicht wunderbar, dass es heute möglich ist, mit einem klapprigen Windows-PC in einem abgelegenen Internetcafé in Südostasien den Computer einer Schweizer Bank dazu zu bringen, einer vietnamesischen Fluggesellschaft Geld zu überweisen und wenige Sekunden später Flugticket und Bordkarte anzuzeigen? Es geht bei diesem Beispiel um simple Datenbankabfragen, es braucht für diese Aufgabe keine künstliche Intelligenz und auch keine Supercomputer.

Computer haben sehr viel dazugelernt. Wie konnte dieser Durchbruch geschehen? Brynjolfsson und McAfee verweisen auf das Mooresche Gesetz. Dieses «Gesetz» bezieht sich auf die Integrationsdichte von Computerchips, die aber kein verlässlicher Indikator ist für die Rechenleistung. Diese wiederum hängt nur lose zusammen mit der Nützlichkeit eines Computers. Seit Jahrzehnten gibt es Computer, die den Tastatureingaben einer geübten Schreibkraft folgen können. Dieser Mensch schreibt nicht schneller, wenn sich die Rechenleistung des Computers nun verdoppelt.

Besser als das Mooresche Gesetz ist das Metcalfesche Gesetz geeignet, den jüngsten Innovationsschub zu erklären. Die vom amerikanischen Computerwissenschafter Robert Metcalfe aufgestellte Faustregel besagt, dass der Nutzen eines Computernetzwerks proportional zur Anzahl der möglichen Verbindungen wächst. Noch Anfang der 1990er Jahre behinderten zahlreiche proprietäre Techniken und vielfältige Inkompatibilitäten den Datenaustausch zwischen Computern unterschiedlicher Bauart. In den 1990er Jahren konnten sich Standards etablieren, die den Datenaustausch erleichterten. Diese Standards sind zum Teil sehr alt (TCP/IP), sie sind manchmal sehr simpel (HTML), und doch haben sie es ermöglicht, dass heute auch komplizierte, mehrstufige Transaktionen, an denen mehrere Firmen und Computer verschiedener Hersteller beteiligt sind, reibungslos ablaufen.

Wiederum ist eine Rückkoppelungsspirale in Gang gesetzt worden: Mit jeder Interaktion mit einem Menschen lernt die Google-Suchmaschine dazu. Die Spracherkennung von Apple, Siri, ist besser als ihre Vorgänger, nicht weil ein neuer Algorithmus zum Einsatz kommt, sondern weil sie mehr über den Benutzer weiss, etwa über sein Adressverzeichnis verfügt oder seinen Standort auf einem Stadtplan kennt. Nach wie vor sind Programme für die automatische Übersetzung von begrenztem Nutzen, aber sie sind jüngst besser geworden, weil sie über ein umfangreiches Korpus mit korrespondierenden Texten in verschiedenen Sprachen verfügen.

«Eine gewisse Beunruhigung»

Das erste Maschinenzeitalter begann mit der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Serie von technischen Erfindungen veränderte die Arbeitswelt grundlegend. Die Befürchtung, dass die Maschinen den Menschen die Arbeit wegnehmen könnten, wurde auch von besonnenen Ökonomen geteilt. John Maynard Keynes sagte zu Beginn der 1930er Jahre als Folge des technischen Fortschritts eine grosse Arbeitslosigkeit voraus.

«In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre», so schreibt die NZZ in der Karfreitagsausgabe 1962, «bemächtigte sich weiter Kreise in der zürcherischen Bevölkerung angesichts der verwirrenden Perspektiven, welche das Aufkommen der Automation eröffnete, eine gewisse Beunruhigung.» Eine vom Regierungsrat eingesetzte Studienkommission kam aber dann zum Schluss, die Automation berühre «wohl auf lange hinaus nur eine kleine Minderheit der Arbeiter- und Angestelltenschaft».

Diese Ansicht, dass die Automation mehr Arbeitsplätze schafft, als sie zerstört, ist laut Brynjolfsson und McAfee unter Ökonomen die vorherrschende. Doch sie sei theoretisch schwer begründbar und gerate zudem empirisch unter Druck. «In den vergangenen zweihundert Jahren hat der technische Fortschritt die Produktivität stark gesteigert, doch ein Blick auf die Daten zeigt, dass sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Beschäftigung im Gleichschritt mit der Produktivität entwickelt hat. Allerdings lässt sich den Daten auch entnehmen, dass sich in jüngster Vergangenheit die Beschäftigung von der Produktivität entkoppelt hat.» Erst jetzt, nach 200 Jahren technischen Fortschritts, geraten die Menschen in die Defensive. Es stünden grössere Verwerfungen an. Nicht nur hat sich auf den Graphen der Volkswirtschafter die Beschäftigung von der Produktivität gelöst, es hat sich auch eine Schere aufgetan zwischen der Zunahme des Bruttoinlandprodukts pro Kopf und dem Medianeinkommen.

Wo bleibt der Mensch?

Das selbstfahrende Auto von Google hat es auch Nicholas Carr angetan. Es weckt bei ihm Erinnerungen an seine Jugend und an sein erstes Auto – ein handgeschalteter Subaru –, es bringt ihn aber auch dazu, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Es sind düstere Gedanken: Zwar seien Computer noch immer so «gehirnlos wie ein Zahnstocher», aber sie seien mittlerweile doch in der Lage, unsere am meisten geschätzten intellektuellen Fähigkeiten nachzuahmen. Nicht nur nehmen die Computer vielen Menschen die Arbeit weg, sie verändern auch die Arbeit. Weil Menschen sich der Maschine anpassen müssen, verdummen sie. «Abgehängt» heisst Carrs Buch (2014) in der deutschen Übersetzung, ein Titel, der die Frage beantwortet, die der Untertitel aufwirft: «Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden?»

Brynjolfsson und McAfee geben sich optimistisch. Die Technik verleihe uns Macht, die Welt zu verändern, aber damit verbunden sei eine grosse Verantwortung. «Es wird eine Belohnung geben oder aber ein Desaster, wie es die Menschheit noch nie gesehen hat.» Was tun, um der Katastrophe zu entgehen? Brynjolfsson und McAfee haben wenig neue Ideen. Sie empfehlen dem Einzelnen, auf eine gute Ausbildung zu achten. Den Politikern raten sie, sich für gute Schulen und eine gute Infrastruktur einzusetzen und für eine Einwanderungspolitik, die gut ausgebildete, unternehmerisch denkende junge Ausländer ins Land lockt. Auch soll der Staat die zunehmende Arbeitslosigkeit durch eine negative Einkommensteuer abmildern. Am Schluss machen sich die beiden Ökonomen Mut mit einem Zitat von Martin Luther King: «Der Bogen der Geschichte ist lang, aber er neigt sich hin zur Gerechtigkeit.»



1 Kommentar:

  1. Vielen Dank fuer die sehr gute und ausfuehrliche Ausfuehrung in bezug auf dieses Thema, dass ja durchaus beschäftigt; was wird aus dem eigenen Beruf werden, wenn dieser von Computern bzw. Maschinen ersetzt: umlernen zum Altenpfleger? Zum Glueck haben ja diese vielen Neuerungen seit der industriellen Revolution nicht nur Nachteile gebracht, sondern auch Wohlstand. Autos haben auch Vorteile, sind nicht nur klimaschädlich. Jedoch sollten diese Neuerungen durch den Staat abgefedert werden, damit der Mensch nicht in Armut verfällt und sich radikalisiert.

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