Donnerstag, 15. Dezember 2016

Die Meiji-Revolution im Roman.

der junge Mutsuhito
aus nzz.ch, 9.12.2016, 05:30 Uhr

Vor hundert Jahren starb Natsume Soseki
Chronist eines epochalen Umbruchs 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlief Japan eine Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Natsume Soseki hat den Geist der «Meiji-Epoche» wie kein anderer zu fassen vermocht.

von Katharina Borchardt 

Die Stadt Tokio – was für ein Schock! Der junge Sanshiro ist zutiefst erschrocken, als er Anfang des 20. Jahrhunderts zum Studium in die japanische Hauptstadt kommt: wuselnde Menschenmassen, klingelnde Strassenbahnen, Geschäfte mit europäischen Waren.

Natsume Soseki hinterliess ein thematisch vielschichtiges, psychologisch differenziertes und stilistisch hochfeines Werk. (Bild: PD)
«Was ihn aber am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass die Stadt Tokio scheinbar kein Ende hatte», schreibt Natsume Soseki in seinem 1908 erschienenen Roman «Sanshiros Wege». Sanshiro ist ein Junge aus der Provinz. Er kommt aus dem Städtchen Kumamoto auf der Insel Kyushu, das der Autor aus eigener Erfahrung kannte. Nach dem Studium der Anglistik, einer damals in Japan noch ganz jungen, nach Zukunft duftenden Wissenschaft, unterrichtete Soseki zunächst an einer Schule in Tokio, dann auf der Insel Shikoku und schliesslich auf Kyushu.

Natsume Soseki 

Die grosse Kluft zwischen Stadt und Land kannte Soseki, wie sich der unter dem Namen Natsume Kinnosuke geborene Autor selbst nannte, also sehr gut. In seinen Romanen wird sie immer wieder beschrieben, etwa wenn die Landbevölkerung erbebt angesichts der urbanen Nachrichten, die moderne Tageszeitungen im ganzen Land verbreiten, oder wenn sich selbst die Hunde heiser bellen, sobald ein städtischer Besucher in eng anliegender europäischer Kleidung durchs Dorf läuft. Wenn Sanshiro in Tokio Briefe von seiner Mutter aus der Provinz erhält, scheinen sie ihm Botschaften «aus einer uralten, schon längst vergangenen Welt».

Erzwungene Öffnung

Eine Bewegung in die moderne Stadt hinein oder aus der Stadt zurück aufs Land vollziehen etliche Werke von Natsume Soseki. Sanshiro und auch der namenlose Erzähler des Meisterwerkes «Kokoro» (1914) kommen aus dem Hinterland zum Studium nach Tokio. Der 23-jährige Erzähler des nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Romans «Der Bergmann» (1908) wiederum flieht nach einem Liebesskandal aus Tokio aufs Land, wo ein Anwerber den naiven jungen Mann als Arbeiter an ein Bergwerk vermittelt. Die Gesichter der Bergleute, die über keinerlei Bildung oder Weltgewandtheit verfügen, empfindet der Tokioter als wild und unmenschlich. Erst als er auf einen Arbeiter trifft, der seine Rede mit Lehnwörtern aus dem Chinesischen anzureichern versteht, entspannt sich der junge Mann ein wenig.

Meiji Tenno

Natsume Soseki lebte in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Seine Lebensjahre (1867 bis 1916) kommen fast vollständig überein mit der Regentschaft von Tenno Mutsuhito, die die «Meiji-Zeit» genannt wurde, die «Zeit der aufgeklärten Herrschaft» (1868 bis 1912). 1854 erzwangen die USA als erster ausländischer Staat die Öffnung der japanischen Häfen; Handelsverträge mit anderen Ländern folgten kurz darauf, auch mit Preussen und der Schweiz. So gelangten nicht nur westliche Waren ins Land, sondern überdies moderne politische Ideen und technische Neuheiten, wie etwa Strassenbahnen, Tageszeitungen und industrielle Produktionsanlagen. Diese Veränderungen im öffentlichen Raum bilden übrigens auch die prachtvollen Ukiyo-e-Holzschnitte und die kolorierten Fotografien aus Japan ab, die augenblicklich im Frankfurter Museum Angewandte Kunst gezeigt werden.

Neumodisch und etwas ratlos

Natsume Soseki greift die Neuheiten in seinen Büchern ebenfalls auf und erzählt von Figuren, die häufig per Zug oder Strassenbahn reisen. Gerne lässt er sie mit europäischer Kleidung experimentieren, neumodische Eisdielen und Billardzimmer besuchen und beim Tee, wenn auch ein wenig ratlos, mit Zuckerzangen hantieren. Um seine Werke zu verbreiten, bediente sich Soseki selbst gerne der modernen Tagespresse. Nachdem er zwei Jahre in London verbracht und eine Zeitlang – als Nachfolger von Lafcadio Hearn – an der Tokioter Universität Englisch gelehrt hatte, gab er diese respektierte Position auf und wandte sich ganz dem Schreiben zu. Seine Bücher erschienen meist als Fortsetzungsromane in Tageszeitungen.

Die gesellschaftlichen Veränderungen sind bei Soseki keine rein äusserlichen. Sie greifen tief in Leben und Selbstverständnis seiner Figuren ein. Zwar ziehen sie sich in Zeiten grosser persönlicher Konfusion gelegentlich noch in ein Zen-Kloster zurück, wie der soeben erschienene Auszug aus dem Roman «Das Tor» nachlesbar macht. Gleichzeitig erfahren sie aber auch die Einsamkeit des modernen Menschen «in einer Zeit der Freiheit, der Unabhängigkeit und individuellen Entfaltung», wie man es im Roman «Kokoro» miterlebt.

Darin lernt ein junger Student einen älteren Mann beim Baden am Meer kennen. Der Jüngere wird auf den Älteren aufmerksam, weil dieser offenbar mühelosen Umgang mit einem Europäer pflegt, der sich ebenfalls am Strand aufhält. Der Student nennt den älteren Mann respektvoll «Sensei», also «Lehrer», und geht in dessen Haus bald ein und aus. Sein ganzes Studium über führt er rege Gespräche mit dem Sensei, der vermögend ist und deshalb – ein wiederkehrendes Thema bei Soseki – keiner Erwerbsarbeit nachgehen muss.

Doch der Sensei hat ein dunkles Geheimnis, das sich erst im dritten und letzten Teil des Romans lüftet. Nach zwei Kapiteln aus der Ich-Perspektive des jungen Studenten über sein Verhältnis zum Sensei und gelegentliche Besuche bei seinem eigenen sterbenden Vater in der Provinz folgt ein langer Brief des Älteren, in dem er nicht nur eine schwerwiegende Verfehlung in seiner Jugend eingesteht, sondern auch seinen Freitod aus Scham über diese Sünde ankündigt. Dass er seinen Suizid gleichzeitig in einen Zusammenhang mit dem Tod des Tennos und seines treu ergebenen Generals Nogi setzt, zeigt, dass sich der Sensei allzu viel individualistischen Alleingang doch noch nicht traut.

Neue Ernsthaftigkeit


Meiji Tenno

Natsume Soseki erzählt seine Romane grösstenteils aus der Ich-Perspektive. War der Roman in Japan lange bloss ein Unterhaltungsformat, erlangte er um die Jahrhundertwende – prominent vertreten gerade durch die Bücher von Natsume Soseki – eine neue Ernsthaftigkeit. Mit der westlichen Individualität breitete sich auch eine psychologisch-individualisierte Form des Ich in die japanische Literatur aus. Die Naturalisten trieben die Selbstauskunft auf die Spitze, doch auch ein feiner Realist wie Soseki nahm das Ich sehr ernst und reflektiert insbesondere im «Bergmann» intensiv über Begriffe wie Seele und Charakter.

Zwar sind Sosekis Ich-Erzähler allesamt Männer, doch spielen auch Frauen eine Rolle in seinen Romanen. Dabei kommt Soseki bis in sein Spätwerk «Kokoro» hinein zu keinem Schluss, wie frei sich Frauen eigentlich verhalten sollten. In «Kokoro» stellt er die Frau des Sensei als ruhige, zurückhaltende Person sehr positiv dar. Der mit dem Sensei befreundete Student fühlt sich angezogen von dem, «was sich in ihrer Art von dem veralteten japanischen Frauenideal unterschied». Dennoch «sprach sie ganz schlicht, ohne sich der vielen Modewörter zu bedienen, die sich damals immer mehr ausbreiteten».

In eine Rollenschablone fügt sich diese Frau nicht mehr. Trotzdem ist es dem Studenten durchaus angenehm zu erfahren, dass die Frau des Sensei «nicht modern genug» ist, «um ihre Überzeugungen um jeden Preis durchsetzen zu wollen und darin Genugtuung zu finden». Auch warnt der Sensei den jungen Mann eindringlich vor langen schwarzen Haaren, die einen Mann fesseln können, wie es auch der junge Tokioter im «Bergmann» erlebt, der in eine Frau verliebt ist, die sich ihm gegenüber auf sinnesverwirrende Weise «mal rund, mal eckig» macht.

Natsume Soseki hat ein thematisch vielschichtiges, psychologisch differenziertes und stilistisch hochfeines Werk geschaffen, das die gesellschaftlichen Übergänge seiner Zeit mit all ihren inneren Spannungen ins Bild setzt. Er starb heute vor einhundert Jahren im Alter von nur 49 Jahren.

Natsume Soseki: Der Bergmann. Aus dem Japanischen von Franz Hintereder-Emde. Bebra-Verlag, Berlin 2015. 240 S., Fr. 36.90. 
Natsume Soseki: Kokoro. Aus dem Japanischen von Oscar Benl. Manesse-Verlag, Zürich 2015. 384 S., Fr. 35.90. 

Natsume Soseki: Das Tor & Haiku. Aus dem Japanischen von Guido Keller und Taro Yamada. Angkor-Verlag 2015. 64 S., € 4.90.


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