Donnerstag, 29. Dezember 2016

Gibt es doch Fortschritt in der Ukraine?


Maidan, Kiew
aus nzz.ch, 29.12.2016, 05:30 Uhr

Tiefgreifende Reformerfolge in der Ukraine
Angriff der Zivilgesellschaft
Anders, als die westlichen Medien es meist darstellen, stagnieren die Verhältnisse in der Ukraine keineswegs. Die politischen Reformen beginnen langsam, aber ernsthaft zu greifen. 

Gastkommentar von Andreas Umland 

Im Gegensatz zum Bild, welches westliche Medienberichterstattung zur Ukraine meist vermittelt, ist in dem postsowjetischen Land ein ernsthafter Reformprozess im Gang. Zwar sind die ukrainische Politik und Gesellschaft heute nicht weniger, sondern womöglich noch mehr von Skandalen und Anschuldigungen geprägt als zuvor. Möglicherweise entsteht bei einigen Beobachtern gar der Eindruck, dass die Lage derzeit schlimmer als früher ist. Tatsächlich zeugen jedoch die sich verschärfenden politischen Schlachten in Kiew von der zunehmenden Tiefe, Nachhaltigkeit und Unumkehrbarkeit der Veränderungen.

In den vergangenen zweieinhalb Jahren ging es um die Annahme einer Vielzahl neuer Gesetze sowie die Schaffung einer Reihe neuer Institutionen – etwa zur Korruptionsbekämpfung. Nun beginnt allmählich die zwar häufig stockende, aber doch fortschreitende Umsetzung neuer Wirtschafts-, Verhaltens- und Verwaltungsregeln im täglichen Leben. Dies hat für einige Bevölkerungsteile – nicht zuletzt für einen Grossteil der alten Wirtschafts- und Politikerelite – unangenehme, ja manchmal schmerzliche Folgen. Lang gewohnte Subventionen, liebgewonnene Privilegien, alteingesessene Pfründen, eingespielte Mechanismen und weit gesponnene Netzwerke fallen weg oder verlieren an Bedeutung.


Letzte Abwehr der Oligarchen

So geht es in den ukrainischen Medien, Ministerien und Parlamenten heute heiss her. Allwöchentlich gibt es neue Korruptionsvorwürfe gegen diese oder jene Amtsperson – bis hin zum Präsidenten des Landes. Oft sind die Anschuldigungen gerechtfertigt, aber manchmal wird auch gezielt gelogen und diffamiert. Die berüchtigten Oligarchen sind noch immer nicht aus den staatlichen Entscheidungsprozessen verdrängt. Sie spüren, dass sich ihre Zeit dem Ende nähert, wehren sich umso aggressiver gegen den Reformprozess und versuchen noch ein paar Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Der Grund dafür, dass sich die Ukraine derzeit trotzdem ändert, hat wenig mit einem Sinneswandel unter ukrainischen Politikern zu tun. Vielmehr gibt es ein neues Umfeld, in welchem sich die gekauften politischen Parteien, korrumpierten Beamtenapparate und informellen Wirtschaftsnetzwerke heute bewegen.

Zum einen ist die ukrainische Zivilgesellschaft zu einem gewichtigen Faktor im nationalen Gesetzgebungsverfahren und staatlichen Entscheidungsfindungsprozess geworden. Die Aktivisten und Bürgerorganisationen der «Orangen Revolution» vom November/Dezember 2004 zogen sich damals im Anschluss an ihren zunächst erfolgreichen Wahlaufstand wieder aus der Politik zurück. Sich selbst überlassen, versank die alte politische Klasse in zermürbenden Flügelkämpfen und Korruptionsskandalen. Deren Folgen spülten schliesslich 2010 einen der übelsten Vertreter der postsowjetischen Politikerklasse, Wiktor Janukowitsch, an die Macht.

Heute sind dagegen viele der Initiatoren und Organisatoren der «Revolution der Würde» von 2013/2014 in dieser oder jener Form im politischen Prozess verblieben. Hunderte einstige, meist junge Bürgerrechtler üben derzeit als Parlamentarier, Lobbyisten, Publizisten, Analysten, Anwälte und Beamte in Kiew und den Regionen Druck auf die immer noch dominante, alte politische Klasse aus.

Zum anderen hat sich die Bedeutsamkeit internationaler – meist westlicher oder westlich geprägter – Organisationen und auch der westlichen Botschaften im politischen und wirtschaftlichen Leben der Ukraine seit 2014 deutlich erhöht. Der IMF und die EU stellen heute – gemeinsam mit Dutzenden weiteren Geberorganisationen – der Ukraine eine Art neuen Marshall-Plan zur Verfügung. Mit dem frischen Geld aus Brüssel, Washington und Berlin gehen auch härtere Forderungen nach mehr Transparenz, substanzieller Transformation und vorzeigbaren Resultaten einher.

Häufig arbeiten die westlichen Diplomaten und Geber in Kiew bei der Formulierung der Konditionen und Modi ihrer finanziellen Förderung mit ukrainischen Aktivisten, Forschern und Journalisten zusammen. Die alte politische Klasse ist daher heute in einer Art Sandwichsituation gefangen: Von der einen Seite fordert die Zivilgesellschaft schnellere Reformen. Von der anderen Seite verleihen die internationalen Geber diesen Forderungen mit Zuckerbrot und Peitsche Gewicht.

Der ukrainische Transformationsprozess dürfte auch in Zukunft von Rückschlägen, Stagnationsphasen und Zickzackbewegungen geprägt bleiben. Jedoch wird die laufende Mammutreform letztlich zum Erfolg führen. In zirka zehn Jahren wird die Ukraine ein anderes Land mit weniger Korruption, einem erfolgreicheren Wirtschaftsmodell und besserem Verwaltungsapparat sein. Ein Grossteil des weitreichenden ukrainischen Assoziierungsabkommens mit der EU sowie des derzeit anlaufenden tiefgehenden Dezentralisierungsprogramms wird umgesetzt sein. Damit wird die Ukraine auch als Neumitglied für die EU interessant werden und früher oder später Beitrittsverhandlungen aufnehmen.

Unwille in Moskau und Minsk

Grösster Risikofaktor einer solchen Prognose sind nicht die innerukrainischen Reformgegner. Vielmehr drohen künftige ukrainische Reformerfolge und eine EU-Mitgliedschaftsperspektive auf Unwillen in Moskau und Minsk zu stossen. So lange, wie Russland und Belarus nicht selbst ernsthafte Reformen und ihre eigene Assoziation mit der EU angehen, werden neue Eskalationen insbesondere in der Ost- und der Südukraine wie ein Damoklesschwert über Kiew hängen.

Seinen Low-Intensity-Hybridkrieg gegen die Ukraine wird Moskau womöglich ohnehin noch für Jahre fortführen. Solange das fundamentale Sicherheitsproblem der Ukraine ungelöst ist, besteht das Risiko, dass die erheblichen ukrainischen Reformanstrengungen und gutgemeinten westlichen Hilfsmilliarden letzten Endes sinnlose Liebesmüh bleiben.

Andreas Umland ist Senior Research Fellow am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew.


Nota. - Das klingt so triumphal, als hätte er dafür Geld bekommen; ich meine, mehr als das übliche Autoren- honorar. Aber weil es im Kontrast steht zu dem, was man sonst liest, bringe ich es doch. Womöglich ist ja was dran.
JE

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