Dienstag, 31. Januar 2017

Das Licht kam aus dem Westen.

aus nzz.ch, 10.10.2016
 
Es gibt nur eine Menschheit
Lob des Eurozentrismus
Für die Anhänger des postmodernen Relativismus gibt es in Bezug auf die Menschenrechte eine Menschheit erster und eine Menschheit zweiter Klasse. Das widerspricht der Moral und der Vernunft.

Gastkommentar von Peter Strasser 

In seinem Grossessay «Les identités meurtrières» – «Mörderische Identitäten» – aus dem Jahre 1998 führt der in Libanon geborene und in Frankreich lebende Schriftsteller Amin Maalouf einen Punkt ins Treffen, der ihm gelegentlich den Vorwurf einbrachte, eurozentrisch zu denken. Der Punkt ist folgender: Die westliche Welt lässt im Umgang mit «unterentwickelten» oder «anderskulturellen» Nationen, in denen die Menschenrechte mit Füssen getreten werden, oft eine fragwürdige Toleranz erkennen.

Man dürfe, lautet das oftmals ins Feld geführte Argument, die Mentalitäten im arabischen und afrikanischen Raum nicht überfordern. Hinter diesem Argument steckt, abgesehen von ökonomischem Kalkül und politischer Diplomatie, eine fatale Herablassung. Man wisse es eben «dort» nicht besser, weil «dort» mangels besserer Einsicht die ethischen Standards der Aufklärung unverstanden blieben.


Derart kann Toleranz ein Zeichen dafür sein, dass man das jeweilige Gegenüber nicht für «voll» nimmt; man verhält sich, als ob man es mit einem geistig Minderbemittelten oder einem Kind zu tun hätte, das seine wahren Interessen noch nicht kennt. «Jemanden respektieren, seine Geschichte respektieren», so Maalouf, «verlangt, dass man ihn als Angehörigen derselben Menschheit betrachtet, und nicht als Angehörigen einer anderen, einer zweitklassigen Menschheit.»

Entweder – oder

Diesem Verlangen zu genügen, war eines der deklarierten Ziele der postmodernen Eurozentrismus-Kritik. Die Postmoderne gilt als eine historische – oder eben posthistorische – Epoche, welche beansprucht, sich jenseits des Glaubens an eine starke kulturelle Identität zu placieren. Der pseudoreligiöse Einzigartigkeitsglaube führte zweifellos immer wieder zu mörderischen Auseinandersetzungen, die vermeintlich kollektiver Selbsterhaltung galten: wir Deutschen, wir Russen, wir Japaner; und ferner: wir Christen, wir Muslime, wir Juden . . . Die Liste liesse sich schier endlos fortsetzen, national, ethnisch, konfessionell. Die entsprechenden «Identitäten» sind zu einem gewichtigen Teil krause Phantasmen, die sich um historische Mythen ranken. Zugleich befördern sie eine schicksalsträchtige und, im schlimmsten Fall, kriegerische Mobilisierung der Massen.
Daher setzt der Postmodernist auf das, was der Deutsche Odo Marquard, der Amerikaner Richard Rorty oder, auf seine Weise, der Österreicher Paul Feyerabend als «kulturellen Polytheismus» empfahlen. Zwar hatte man in der griechischen und römischen Antike jeweils seine eigenen religiösen Gepflogenheiten; doch man liess jene der «Barbaren» pragmatisch gelten. Um des lieben Friedens willen war man im Idealfall bereit, fremde Gottheiten gleichsam zu «adoptieren», ihnen einen begrenzten Respekt zu erweisen und Opfer darzubringen.

Gewiss, beim Juden-Christentum, dessen Gott keine anderen Götter neben sich dulden wollte, sondern diese im Gegenteil verteufelte, hörte der imperiale Grossmut auf. «Entweder – oder», das war die Losung der dekadenten Römer. Entweder die Aufsässigen konvertierten zum verhassten Vielgötterglauben ihrer sittenlosen Unterdrücker, oder sie fanden den schmachvollen Martertod am Kreuz.

 
In den Augen der Postmodernisten bringt erst die Rede vom kulturellen Polytheismus den Gedanken der Toleranz zur Vollendung. Dieser Gedanke verhält sich abweisend, was unsere tief eingewurzelte, weithin vorfindliche Neigung betrifft, nach der objektiven Wahrheit zu streben oder zu unterstellen, sie sei uns ohnehin offenbart. So gesehen brächte der «Westen», der im Namen absoluter Wahrheit einst selbst die schlimmsten Menschheitsverbrechen rechtfertigte, nun all den verstockten Wahrheitsgläubigen unserer Zeit die Frohbotschaft eines gedeihlichen Miteinander.

Spielwiese der Avantgarde

Die Botschaft lautet: Es gibt nicht die Wahrheit, sei es in Form einer Religion, eines Ethos oder einer Kultur; es gibt nur die vielen regionalen Wahrheiten, denn alles hat seinen spezifischen Ursprung und individuellen Kontext. Und wenn wir Feyerabends «Anything goes» zustimmen, dann träfe dies sogar auf die moderne Wissenschaft zu: Der «Hexenhammer» («Malleus Maleficarum») aus dem späten 15. Jahrhundert wäre demnach nicht weniger rational gewesen als ein gegenwärtiges Lehrbuch der Physik . . .

Der Wahrheitsrelativismus ist nie weit über die Spielwiese der intellektuellen Avantgarde hinausgekommen. Was aber hartnäckig blieb, war eine Schrumpfform, die man im sogenannten liberalen Diskurs oft bemerkt. Demnach entspricht es zwar unseren Standards, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Unverbrüchlichkeit der Menschenrechte zum Kern einer jeden staatlichen Räson gehören. Ihre Umsetzung gilt als Bedingung der Humanität. Dennoch kann man immer wieder die Forderung hören, man solle die «Authentizität» kultureller Gegenpositionen anerkennen, die aus historisch und geistig anders fundierten Quellen gespeist werden – heute vornehmlich aus dem theokratischen Erbe des Islam.

Derlei Bereitschaft zur «Diversion» mag zum Ziel haben, einer weiteren zivilen Verhärtung des Westens entgegenzuwirken. Leicht jedoch entsteht daraus, gewissermassen als Kollateralschaden, eine Schwächung jener Prinzipien des Guten und der Gerechtigkeit, die mit wohlerwogenen Gründen den Anspruch erheben, nicht bloss regional, sondern universell gültig zu sein.

Kairoer Aufhebung

Der Universalitätsanspruch der Ethik steht quer zu allen Herrschaftsforderungen, die von Männern gegenüber Frauen, Priestern gegenüber Laien, Nationen gegenüber anderen Nationen, auch Einzelnen, die geburtlich privilegiert sind, gegenüber einfachen und armen Leuten erhoben werden. Paradoxerweise muss jedoch gerade dieser Anspruch – aus der Perspektive des multikulturellen Credos – mit dem Vorwurf rechnen, eine ganz bestimmte Moral, nämlich die westliche, absolut setzen zu wollen.

Zwei Aspekte sind dabei entscheidend. Erstens liegt der aufgeklärten Ethik das Postulat zugrunde, wonach alle Menschen «gleich» sind – ein Postulat, das den Staat verfassungsgemäss bindet, keinen willkürlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern, Rassen, Religionen und der sozialen Herkunft eines Menschen zu akzeptieren. Zweitens gilt, dass jeder erwachsene und geistig gesunde Mensch aufgrund der ihm eigenen – allgemeinmenschlichen – Vernunft über eine Autorität verfügt, die ihn nicht zuletzt in moralischen Angelegenheiten zum obersten Richter seiner Überzeugungen macht.

Demgegenüber existiert seit 1990 neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die sogenannte Kairoer Variante. Darin werden die absoluten Rechte für alle Menschen bestätigt, indessen mit der Einschränkung, dass sie den Geboten des Islam nicht widersprechen dürfen. In Artikel 24 heisst es: «Alle in dieser Erklärung festgelegten Rechte und Freiheiten sind der islamischen Scharia nachgeordnet.» Kein Menschenrecht wird als solches – als autonomes Recht des Menschen – anerkannt, weil alles Recht im Grunde göttliches Recht ist. Das kommt, unverblümt ausgedrückt, einer Aufhebung der Menschenrechte gleich!

Dürfen wir angesichts der hier festgeschriebenen Fundamentaldifferenz trotzdem «eurozentrisch» darauf beharren, dass in ethischen Angelegenheiten dem menschlichen Urteil die höchste Autorität beizumessen sei? Kurz gesagt: Ja. Da kein Mensch die Missachtung seiner natürlichen Selbstachtung und seines Strebens nach Wohlbefinden freiwillig als gerecht akzeptiert, sind Traditionen, in denen Ungerechtigkeiten geheiligt werden, unmoralisch. Wird gegen dieses Verdikt der unbefragbare Wille Gottes gestellt, dann ist darauf, wiederum «eurozentrisch», zu erwidern, dass kein Gottesbild ein Bild des Gottes aller Menschen sein kann, wenn es einschliesst, dass nicht alle Menschen gleich sind.

Der freie Wille und das mitfühlende Herz

Wer einer derartigen Sicht der Dinge ihre westliche Signatur vorhält, übersieht, dass es um eine Moral geht, die der menschlichen Natur, ihren Bedürfnissen, Nöten und Freuden am besten entspricht. John Stuart Mill hat es in seinem Werk «Utilitarianism» (1861) auf einfache Weise formuliert: Alle Menschen wollen möglichst glücklich und jedenfalls möglichst leidlos leben. Niemand will sich von Tugendwächtern drangsalieren lassen, niemand will eine Not erdulden müssen, die einzig der Befestigung einer Tyrannei, ob göttlich oder irdisch, dient.

Jedes Lob des Eurozentrismus überzeugt – falls überhaupt – nur, wenn dieser den Verzicht auf Eurozentrizität im Sinne einer lokalen, geopolitischen Standortfixierung umfasst. Ethisch geht es um die ganze Menschheit. Kein geografischer, kein historischer Ort entscheidet über die Vorzugswürdigkeit einer Weise des Zusammenlebens, sondern allein der freie Wille und das mitfühlende Herz, geleitet durch die autonome Vernunft.

Peter Strasser, Jahrgang 1950, ist Professor für Philosophie und Rechtsphilosophie an der Universität Graz. Soeben ist aus seiner Feder im Verlag Wilhelm Fink erschienen: «Morgengrauen. Journal zum philosophischen Hausgebrauch».


Nota. - Nur dies zur römischen Christenverfolgung: Die Christen wurden im römischen Reich nicht verfolgt, weil sie ihren Gott für den einzigen hielten, sondern weil und wenn sie daraus den Schluss zogen, dem Kaiser nicht zu geben, "was der Kaisers war": wenn sie sich weigerten, gemäß dem Staatskultus dem jeweiligen göttlichen Cäsar ihr Opfer darzubringen. - Letzteres war ihnen durch ihre geistlichen Autoritäten aber ausdrücklich erlaubt worden. Nicht ihr Glaube selbst wurde verfolgt, sondern ihre radikalen politischen Konsequenzen daraus. 
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen