Montag, 1. Mai 2017

Tag der schwindenden Arbeit


aus Süddeutsche.de,

Tag der Arbeit
Die Industrialisierung kehrt nie zurück
Donald Trump, Martin Schulz und viele andere singen ein Loblied auf die Arbeiter. Doch was, wenn ihre Tatkraft in Zeiten der fortschreitenden Automatisierung nicht mehr gebraucht wird?

Kommentar von Thomas Steinfeld

Ein Bild des berühmten Fotografen Andreas Gursky zeigt eine Montagehalle der Firma Siemens in Karlsruhe. Hunderte Kabel ziehen sich von der Decke, Transportwagen mit Kleinteilen stehen ordentlich aufgereiht. Dazwischen hängen und liegen noch mehr Kabel, penibel auf Scheiben gerollt. Die Arbeiter sind in dieser Szenerie von gigantischer Kleinteiligkeit kaum zu sehen: Sie sitzen an schmalen Tischen der Kabelfabrik, die meisten von ihnen in weißen Kitteln, wie begraben unter dem Material. Die Fotografie stammt aus dem Jahr 1991. Es ist unwahrscheinlich, dass es diese Arbeit und die Arbeiter heute, fast eine Generation später, überhaupt noch gibt - und schon gar nicht an diesem Ort, wo Löhne gezahlt werden, die deutlich höher ausfallen als in anderen Ländern. Falls diese Arbeitsplätze noch existieren sollten, befinden sie sich vermutlich längst in Rumänien, in Bangladesch oder Taiwan.

Es gibt immer mehr Arbeiter, doch diese Tendenz wird sich umkehren

Das Bild ist ein Lehrstück. Es handelt vom Verschwinden der Arbeit. Zwar gibt es, infolge der Industrialisierung in den ehemaligen Schwellenländern und in der Dritten Welt, immer mehr Arbeiter. Ihre Zahl soll sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehr als verdoppelt haben, von gut einer Milliarde Menschen auf fast drei Milliarden. In den industrialisierten Ländern jedoch nimmt ihre Zahl seit zwanzig, dreißig Jahren kontinuierlich ab. Es lässt sich absehen, wann dieselbe Entwicklung in die Länder vordringt, in denen gegenwärtig die Zahl der Arbeiter noch wächst. Dann nämlich, wenn dort die Löhne steigen und, im Vergleich dazu, der Einsatz von Maschinen billiger wird. "Die Selbstverwertung des Kapitals durch die Maschine steht im direkten Verhältnis zur Arbeiterzahl, deren Existenzbedingungen sie vernichtet", heißt es in einem Buch, das in diesem September vor 150 Jahren erschien: dem ersten Band des "Kapitals". Wie recht Karl Marx mit diesem Satz hatte, lässt sich an Andreas Gurskys Fotografie erahnen.


 Andreaas Gursky, Siemens Karlsruhe, 1991

Am Montag, dem 1. Mai, wird das an diesem Tag übliche Lob der Arbeit deutlicher ausfallen, als das noch vor einigen Jahren der Fall gewesen wäre. Das liegt zum einen an Verhältnissen, in denen das Kapital aufgehört hat, sich als solches zu verhalten: Geld gibt es zwar in fast unendlichen Mengen, und es kostet nur sehr wenig, aber es finden sich kaum traditionelle Unternehmen, in die es sich zu investieren lohnt - weswegen das Wachstum so gering bleibt. Und zum anderen lässt es sich nicht übersehen, vor allem nicht in den Fabriken selbst, welche rapiden Fortschritte die Automatisierung macht. "Lasst uns pflügen, lasst uns bauen, lernt und schafft wie nie zuvor", hieß es in der dritten Strophe der Nationalhymne der DDR. In diesem Jahr ist es, als könnten und wollten alle Redner des Tages in diese Verse einstimmen, die Politiker von rechts wie die von links, die Gewerkschaftler sowieso und vielleicht sogar der Arbeitgeberverband.

Die Wahlkampfformel von den "hart arbeitenden Menschen"

Martin Schulz spricht immer wieder von den "hart arbeitenden Menschen". Als er dies zum ersten Mal nach der Wahl zum Kanzlerkandidaten tat, klang es nach Schweiß, grobem Werkzeug und Schichtbetrieb, wie zurückgekehrt aus tiefer Vergangenheit. Aber es traf auf ein gegenwärtiges Unbehagen, auf eine Sorge, die den Automaten und der Digitalisierung ebenso gilt wie den wiederum nur 1,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts, die Deutschlands Wachstum für das laufende Jahr darstellen sollen. "Hart arbeitende Menschen" - das soll heißen, dass diese Menschen im Recht seien, gegenüber allen Zumutungen, die Wirtschaft, Politik und Fortschritt für sie bereithalten. Aber was nützt das Bewusstsein, recht zu haben, wenn die Arbeit nicht gebraucht wird?


Karl Marx' "Reservearmee" der Arbeitslosen wird nicht mehr gebraucht

Im Lob der Arbeit, in den Forderungen zur neuerlichen Industrialisierung geht es auch um Arbeitsplätze, um die Möglichkeiten, ein Auskommen zu finden. Aber zugleich geht es um mehr: Denn wenn die industrielle Arbeit schwindet, nimmt nicht zugleich die soziale Bedeutung der Arbeit ab, ihre Funktion für die Vergesellschaftung der Menschen. Nichts verbindet dann diese Menschen mehr, im Schlechten wie im Guten, als die Arbeit. Arbeitslosigkeit, vor allem langfristige, bedeutet zwar Armut, aber in den westeuropäischen Ländern bedeutet sie schon lange nicht mehr existenzielle Not. Allerdings geht sie mit einer Auflösung von Gesellschaft einher. Karl Marx hatte die Arbeitslosen die "industrielle Reservearmee" genannt. Sie diente nicht zuletzt dazu, die Löhne niedrig zu halten. Diese Reserve wird nicht mehr gebraucht, und wer einst dazugehört hatte, befindet sich nun unter Überflüssigen. Das Lob der Arbeit, so wie es gegenwärtig angestimmt wird, hat ebenso mit dem Bewusstsein solcher Verluste zu tun wie das utopische Verlangen nach neuerlicher Industrialisierung.

  Lewis Hine

Fast dreißig Jahre ist es her, dass Andreas Gursky eine Werkhalle in Karlsruhe fotografierte, in der die Arbeiter die geringste und flüchtigste Ressource darstellten. Dem Kapital ist es seitdem nicht schlecht ergangen, im Gegenteil, und es sieht auch nicht danach aus, dass sich daran etwas änderte, jedenfalls nicht in Deutschland. Deswegen wird auch in diesem Jahr am 1. Mai mehr Lohn gefordert werden, und sei es, weil damit der Konsum beflügelt werden soll. Unwahrscheinlich ist es jedoch, dass die anderen traditionellen Themen dieses Tages, die Mitbestimmung oder die Dauer der Arbeitswoche, die Festreden beherrschen werden. An ihre Stelle scheint etwas viel Grundsätzlicheres zu treten: die Frage nach der Zukunft der Arbeit überhaupt.


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