Freitag, 29. September 2017

Andrea Nahles gibt schonmal die Richtung vor.



Der Tagesspiegel berichtet über den ersten Auftritt der neuen SPD-Fraktionsvorsitzenden: "Im Zweifel seien aus ihrer Sicht bei einem großen Flüchtlingsandrang auch Grenzschließungen notwendig, sagte Nahles. 'Ein Staat muss auch in der Lage sein, Staat zu sein. Er ist eine regulierende, organisierende, ermöglichende, aber auch strafende und begrenzende Kraft. Wenn das infrage gestellt wird, dann geht das auf Dauer nicht gut.' Darüber könne man aber nicht im Alleingang, sondern nur in Absprache mit den europäischen Partnern entscheiden."

Sie war im Herbst 2015 Ministerin in Frau Merkels Kabinett. Nein, "wir hätten damals die Grenze schließen sollen" hat sie natürlich nicht gesagt. Aber jeder darf sie so verstehen. Die SPD hat eine halbe Million Wähler an die AfD verloren.

Dass sie bei derselben Gelegenheit mit der Linken flirtet, passt wie die Faust aufs Auge. Oskar Lafontaine und seine Ehefrau haben sich in den vergangenen Tagen ähnlich geäußert. Das kann ja heiter werden mit Martin Schulzens Wiederaufbau der Sozialdemokratie!



Donnerstag, 28. September 2017

Wir schaffen das.


 
Gestern noch hieß es mit Blick auf das Treffen in Tallinn, bevor die neue Koalition unter Dach und Fach sei, müsse sich Angela Merkel in europäischen Angelegenheiten ganz still verhalten. Europa werde auf den Ausgang der Verhandlungen von CDU, CSU, FDP und Grünen wohl warten müssen. Heute schon belehrt die FAZ sich und uns eines Besseren. Sie begrüßt laut und vernehmlich Macrons Vorstoß für eine neue Union, die er ja an- geblich mit ihr abgestimmt hatte; und den von Juncker!

"Aus deutscher Sicht seien bei den Reformen der EU Fragen des Wachstums, der Wettbewerbsfähigkeit und der Arbeitsplätze besonderes wichtig, sagte Merkel. 'Ausgesprochen positiv' sehe sie Macrons Vorschläge zu einem Ausbau der gemeinsamen Verteidigung und der gemeinsamen Migrationspolitik. Ziel seien gemeinsame europä- ische Asylverfahren. 'Wo ich noch Handlungsbedarf sehe, sind die Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik', fügte sie hinzu. Auch über die Weiterentwicklung der Eurozone müsse noch 'im Detail' gesprochen werden. Zugleich kündigte sie deutsche Vorschläge an. 'Wir werden da noch mit eigenen Elementen auch uns einbringen.' Bei- spielsweise wolle man den Eurostabilitäts-Mechanismus ESM zu einem europäischen Wirtschaftsfonds weiter- entwickeln. Das wolle auch Macron. Dieser habe in seiner Rede auch die Konditionalität von Hilfen angespro- chen."

Tatsächlich ist es umgekehrt. Mit Europa - nicht mit sonst irgendwas - bringt sie die drei andern in Zugzwang. Das darf sie nicht nur, das muss sie sogar; sie ist Kanzlerin und nicht Kanzlerin im Wartestand. Und es klappt ja schon: "Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber begrüßte Macrons Pläne ebenfalls im Grundsatz. 'In den kommenden Monaten sind alle gefordert, nicht über Brüssel zu mäkeln, sondern sich konstruktiv und mutig in die Debatte einzubringen', schrieb er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung'.  

Die FDP wird sich aus optischen Gründen am meisten zieren, doch um das Ding platzen zu lassen und Neuwah- len allein auf ihre Kappe zu nehmen, müsste sie eine ganz große Sache auffahren können. Das könnte nur Euro- pa sein, aber das muss sie sich erstmal trauen!



Mittwoch, 27. September 2017

Auf Vordermann.



Wenn sie das mit der schwarz-gelb-grünen Regierung nicht hinkriegt, gibts Neuwahlen, und dann kommt die AfD auf 25 Prozent; noch immer nicht verdient, aber wohl begreiflich.

Damit sie's hinkriegt, muss sie ihren eignen Laden auf Vorderfrau bringen. Sie hätte es vor den Wahlen tun sollen, aber Seehofer hat gekniffen, und so musste sie mit hängenden Mundwinkeln seine Unterstützung über sich ergehen lassen, und er hat sie unterstützt, wie der Strick den Gehenkten. Dass er jetzt selber baumelt, hilft ihr nur ein biss- chen.

Klar ist, dass die vielen, die ihr Mandat verloren haben, jetzt ihr die Schuld geben. Das muss sie über sich ergehen lassen. Doch die einzige Chance, dass aus dieser Wahl doch noch was Brauchbares wird, ist, dass sie keinen Zentimeter Boden preisgibt.


So wie bislang.









Dienstag, 26. September 2017

Zwei Hanswurste.


Jacques Callot
 
Angela Merkel verübe einen "Anschlag auf die Demokratie", weil sie die politische Debatte verweigert habe - wenn man nach einem politischen Gedanken sucht, der sich dauerhaft mit dem Namen Martin Schulz verbindet, wird man mehr nicht finden. 

Es war sein Job, Stoff für die Auseinandersetzung zu liefern, er war der Herausforderer. Hätte sie dann die Diskus- sion verweigert, dürfte er sich beschweren. Aber er hat nichts gebracht. Aus seinem Lager hat man, seit Merkel Kanzlerin ist, nie mehr als missgelauntes Raunen gehört. Und bei den beiden entscheidenden Gelegeheiten haben sie danebengestanden und nur gestaunt.

Sie sei ein Ideenstaubsauger, hat er bei der Elefantenrunde gesagt. Als ob das ein Vorwurf an einen Regierungschef wäre! Kann eine Opposition ihrer Regierung ein höheres Lob aussprechen, als dass sie alle ihre Vorschläge, sofern sie was taugen, bereitwilligst übernommen hat? Aber die SPD war nicht in der Opposition, sie war selber Regierung. Da war es das Mindeste, was man von der Kanzlerin erwarten konnte, dass sie deren Beitrag annahm. Doch viel kam da nicht. Und in Schulzens Wahlkampf noch weniger.

Er hat sich gerne von Siegmar Gabriel als Joker aus dem Ärmel ziehen lassen, hat sich gesonnt im Glanz des Heils- bringers und seinen hundert Prozent. Wusste er nicht, dass er nichts auf der Brust hat? Dann ist ihm Recht gesche- hen. Und wenn doch, dann doppelt. Der Mann ist ein lausiger Hochstapler, und statt beschämt in sein Loch zu kriechen, gibt er die beleidigte Leberwurst.

Die andere Jammergestalt ist Horst Seehofer. In Bayern mächtiger, als es Franz Josef sel. je gewesen ist, konnte er tun und lassen, was er wollte. Die würden ihn immer wieder wählen. Doch dass er als Haupt einer Berliner Regie- rungspartei nicht nur bairischer Stammesherzog ist, hat er gewusst und immer drauf gepfiffen. Er hat der - damals noch mickrigen - AfD die Stichworte geliefert, hat den starken Mann markiert und Angela Merkel beschädigt, wo er konnte. Doch weil er in der nächsten Bundesregierung wieder einen Fuß haben wollte, hat er seinen Bayern gesagt, "April April, Angela Merkel ist unsere Kandidatin".

Jetzt hat er die Prügel bezogen, die er dafür verdient, aber weil seine Selbstwahrnehmung ihm ein dickes Fell be- schert, merkt ers nicht. Der Mann ist eine Schießbudenfigur, sie sollten ihn davonjagen.



Montag, 25. September 2017

Abgang.


Das geht ja schneller als erwartet.



Nach Jörg Schönenborns heutiger Blitzumfrage ist die Zahl der Befürworter einer schwarz-gelb-grünen Regierung über Nacht auf 57% gewachsen - um vierunddreißig Prozent.

Für die schwere Niederlage der CDU machen nur 27% der Befragten Angela Merkel verantwortlich; aber 65% ihre Partei.

Wenn der Hasenfuß Seehofer glaubt, er sei in einer starken Position und Frau Merkel in einer schwachen, dann ist er so realitätsnah wie Martin Schulz noch vor zwei Tagen.



Für ein freies und vereintes Kurdistan.


Mustafa Barzani

Kann einer so vernagelt sein und glauben, im Nahen Osten könne es je Frieden geben, solange einer so zahlreichen (und so kampferprobten) Volksgruppe wie den Kurden das Recht auf Selbstbestimmung verweigert bleibt? 



Sonntag, 24. September 2017

Lässt sich da was draus machen?



Nun behalte ich, mit Verzögerung und anders als gedacht, doch noch Recht: Frau Merkels historische Entscheidung vom Herbst 2015 bringt das gesamte deutsche Parteiengefüge aus dem Lot. 

Es müsse eine Scheidung stattfinden zwischen all jenen, meinte ich, die Merkels pragmatischen, aber prinzipienfe- sten Kurs in der Griechenland-Frage und dann in der spektakulären Flüchtlingskrise unterstützen, und den Garten- zwergen, die ihre Schrebergärten ganz für sich alleine haben wollen. Grüne und Sozialdemokraten werde es zerrei- ßen, die CSU würde sich im ganzen Bundesgebiet als rechte Alternative aufbauen müssen, um die AfD kleinzuhal- ten, und an die FDP war noch nicht wieder zu denken. 

"Deutschland als Führungsmacht in Europa und darum Führungskraft des freien Westens: das kam so unverhofft und ist so radikal anders als alles, was es in diesem Land je gegeben hat, dass es noch für geraume Zeit als program- matische Selbstdefinition völlig ausreicht." Welche förmlichen Strukturen so ein Bündnis annehmen konnte, stand in den Sternen. Doch sind wir erstmals in einer Situation, wo sich die politische Mitte nicht diplomatisch als der resul- tierende Nullpunkt zwischen zwei Polen ergibt, sondern sich programmatisch und positiv selbst bestimmen kann - und 'Links' und 'Rechts' als modernde Klötze am Bein beiseite lässt.

Vielleicht war es Merkels Erschrecken vor der eigenen Courage, gewiss aber war es die kleine Schläue von Horst Seehofer, die beide veranlassten, mit Nahen der Bundestagswahl die endlich gewonnene Klarheit wieder zu verwi- schen. Seehofer hat es heute noch etwas teurer bezahlt als Merkel, aber das heißt auch: Es steht ein zweiter Durch- gang ins Haus. Mit der fast unvermeidlichen schwarz-gelb-grünen Koalition wird, sicher nach einer Schreck- und Schamfrist, fast alles so diskutabel werden, wie wenn sich die Parteien alle auflösten und sich neu zusammenfinden müssten. Ein voreiliger Fersehkommentator meint: Jetzt wird Frau Merkel zur Geisel der CSU. Aber die muss ja sel- ber mit Grünen und FDP auskommen. Ein erstes Beispiel in der Elefantenrunde: 'Wir müssen die rechte Flanke schließen', wird Seehofer zitiert. "Eben", kommentiert Joachim Herrmann: "schließen, nicht öffnen." 

Das wird nicht ruck-zuck gehen. Aber eins wär sicher: Sie müssten sich alle vier auf sachliche Erwägungen konzen- trieren, für volkstümliche Phrasen wären sowohl die Spielräume als auch die Mehrheiten zu knapp, und für bloßen Kuhhandel sind die Interessen und Klientelen zu gegensätzlich. 

Das wäre allerdings etwas ganz Neues. Übrigens hat auch bei der Elefantenrunde Frau Merkel als einzige wieder das Thema digitale Revolution angesprochen.

Verspätet behalte ich Recht und anders, als erwartet? Soll mir auch recht sein.

PS. Es wundert Sie, dass die SPD bei mir gar nicht vorkommt? - Das hat Gründe. 


Nachtrag, Montag 25. 9. - Die Würfel sind ja noch gar nicht gefallen. Es wäre dumm, eine schwarz-gelb-grüne Koa- lition nicht zu versuchen. Wer weiß denn, welche Perspektiven sich denen noch öffnen, wenn es auf einmal ernst wird? Wenn sie sich auf einmal die Fensterreden verkneifen und nach sachgerechten Lösungen suchen müssen? Das wird die Rolle des Bundestages vollkommen verändern, denn die erforderlichen Mehrheiten müssen dort gefunden werden. Und da kann sich im Laufe von vier Jahren dann viel ändern. 

Darum hat Frau Merkel Recht, wenn sie jetzt, trotz Schulz, auch mit der SPD reden will (nun erwähne ich sie doch noch). Zumindest Teile von der kämen ja auf lange Sicht für eine Sammlung der Mitte noch in Frage.



Freitag, 22. September 2017

Sollten die Belgier nach Kongo zurückkehren?


«Vielleicht sollten die Belgier nach Kongo zurückkehren»: So überschreibt die NZZ heute einen Beitrag über ein neues Buch des amerikanischen Politologen Bruce Gilley. 

"Können die Probleme in Teilen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens mit der kolonialen Vergangenheit erklärt werden? Die Frage treibt die Wissenschaft seit langem um. Eindeutige Antworten gibt es trotz zahlreichen Studien zwar nicht, zumal nicht solche, die über alle Kontexte hinweg Gültigkeit hätten. In der Tendenz sind sich die Politologen, Ökonomen und Historiker jedoch einig: Der Kolonialismus war nicht nur moralisch verwerflich, er hatte auch einen insgesamt negativen Einfluss auf die Entwicklung der betroffenen Gebiete und hat gewisse postkoloniale Konflikte und Missstände zumindest mit verursacht.

In der jüngsten Ausgabe des Journals «Third World Quarterly», das trotz seinem rückständigen Namen zu den renommierteren Publikationen im Bereich der Entwicklungsstudien gehört, plädiert der Amerikaner ohne Umschweife dafür, die «abfällige Bewertung des Kolonialismus» grundsätzlich zu revidieren. Die Besetzung sei der Entwicklung der betroffenen Länder nämlich «objektiv zuträglich» und legitim gewesen.

Als Beispiel nennt der Autor unter anderem Guinea-Bissau: In der kleinen westafrikanische Ex-Kolonie Portugals seien während und nach dem Unabhängigkeitskampf Tausende von Menschen getötet oder vertrieben worden. Was unter Portugals Ägide zu einem «wohlhabenden Macau Afrikas» hätte werden können, sei heute eine «Kloake menschlichen Leidens». Eine Ausnahme sei das Land nicht, so Gilley. In rund der Hälfte der ehemaligen Kolonien habe die Unabhängigkeit zu «ähnlichen Traumata» geführt.

Gilley schliesst daraus, dass nicht nur das Erbe des Kolonialismus überdacht werden muss, sondern dieser auch wiederbelebt werden sollte: «100 Jahre des Desasters sind genug. Es wird Zeit, wieder für Kolonialismus zu werben.» Gerade in fragilen und schwachen Staaten sei eine neuerliche Kolonialisierung durch den Westen eine valable Option. «Vielleicht sollten die Belgier nach Kongo zurückkehren», so Gilley."

Wie zu erwarten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Zehntausend Wissenschaftler unterzeichneten eine Petition, die den Herausgeber Shahid Qadir aufforderte, den Beitrag aus dem Heft zu nehmen. Das tat der nicht, sondern entgegnete, ein Blatt wie seines sei dazu da, kontroverse Meinungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Da hat die Hälfte seiner Redaktion gekündigt.

Ich für mein' Teil kann mir unter der Aussage, der Kolonialismus sei eventuell legitim gewesen, nichts vorstellen. Das ist keine Tatsachenfeststellung, sondern ein Werturteil. Auf welchen Maßstab könnte es sich gründen? Ob der Kolonialismus indesssen "objektiv zuträglich" gewesen ist, müsste sich an Fakten messen lassen. Solche kann ich nicht erkennen, aber der Aufsatz stellt immerhin die Denkvorschrift in Frage, er sei selbstverständlich objektiv schädlich gewesen,

Die Annahme, er habe eine autochtone Entwicklung verhindert, unterstellt, dass es eine solche wenigstgens im Ansatz gegeben hat oder mit einiger Wahrhscheinlichkeit hätte geben können. Das ist in einem der afrikanischen Länder jedoch nicht zu beobachten.

Nehmen wir Belgisch-Kongo: Patrice Lumumba war, heißt es, als er Premierminister wurde, einer von nur vier kongolosischen Universitätsabsolventen. Das beweist ohne Frage die Heuchelei der kolonialen Progaganda, die Europäer hätten "die Kultur" nach Afrika gebracht. Es beweist aber nicht, dass es am Kongo ohne die Belgier mehr Universitätsabgänger gegeben hätte.

Das ist der Schlüssel für den Aufbau stabiler und rationeller staatlicher Strukturen nicht nur in Afrika: die Entwicklung einer gebildeten und ipso facto zivilisierten Oberschicht, die über den ethnischen Trennungslinien steht. Dazu hat es in dem halben Jahrhundert staatlicher Unabhängigkeit in Afrika nirgendwo erkennbare Ansätze gegeben. Freilich: dort, wo sich die Kolonialherren eine solche Elite herangezüchtet hatten, trat sie als ihre Komplizin und Agentin in Erscheinung, mit der Folge, dass sie im Moment der Unabhängigkeit zumeist verjagt (und ausgeplündert) wurde. Eine solitäre Ausnahme ist Sambia, das ehemalige Nord-Rhodesien; es ist nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Zur Rechtfertigung und womöglich Neubegründung des Kolonialismus taugt sie kaum.

Doch darum ist es Bruce Gilley im Ernst vielleicht nicht gegangen; aber sicher um die Aufmerksamkeit, die er für den Skandal gefunden hat, die Probleme Afrikas anders als in korrekter Sprache zu diskutieren.
JE

Sonntag, 17. September 2017

Leviathan meint: Lasset die Kindlein zu mir kommen.

aus Welt am Sonntag, 16.09.2017 

Kommission gefordert  
CDU-Familienpolitiker beklagt schwere Missstände in der Jugendhilfe

„Ich habe als Abgeordneter mittlerweile so viele Fälle von nicht nachvollziehbaren Inobhutnahmen, Sorgerechtsentzügen, aber auch Klagen von Pflegeeltern über die Behörden zugesendet bekommen, dass ich davon überzeugt bin, dass es sich nicht mehr um wenige Einzelfälle besonders versagender Eltern und schwieriger Kinder handelt“, sagte Weinberg der WELT AM SONNTAG. Vielmehr sei anzunehmen, dass es sich dabei um ein systembedingtes oder strukturelles Problem handeln könnte, so Weinberg.


Kinder und Jugendliche würden immer wieder erzählen, dass ihr Wunsch und ihr Wille bei den Entscheidungen, wo und wie sie leben wollen, missachtet werde. Viele Eltern fühlten sich in Familiengerichts- oder Jugendamtsverfahren gedemütigt und genötigt. „Jedes einzelne Fehlurteil, jedes einzelne unter Fehleinschätzungen leidende Kind ist unser Auftrag, das System zu überprüfen“, fordert Weinberg. Ein Tabuisieren, Wegschauen oder Verdrängen dürfe es nicht länger geben.

Zahl der Inobhutnahmen rasant gestiegen

Tatsächlich steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die von den Jugendämtern aus ihren Familien genommen werden, seit Jahren stetig. Ein großer Teil der 84.230 im vergangenen Jahr in Obhut genommenen Kinder und Jugendlichen waren zwar minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Aber selbst wenn man diese Gruppe herausrechnet, ist die Zahl der Inobhutnahmen rasant gestiegen – von 26.155 im Jahr 1996 auf 39.295 zehn Jahre später.


Es sei sorgfältig zu prüfen, ob dies an einer Zunahme von Erziehungsversagen und Überforderung von Eltern, an erhöhter Wachsamkeit der Behörden oder an einer Absenkung der Eingriffsschwelle liege, so Weinberg. Mit Blick auf die Auswirkungen auf die betroffenen Familien habe der kommende Bundestag die Pflicht, dies zu überprüfen.

Ähnlich wie in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs müsse Betroffenen und Insidern die Gelegenheit gegeben werden, ihre Erfahrungen aus ihrer Perspektive vertraulich zu schildern, damit unabhängige Experten sie auswerten können.


aus FAZ, 17. 9. 2017

Jugendämter können sogenannte vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen als Hilfe in akuten Krisen- oder Gefahrensituationen durchführen – etwa auf Bitten der Kinder oder bei Gefahr für das Kindeswohl. Bis eine Lösung gefunden ist, werden die Minderjährigen in Obhut genommen und können auch in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie untergebracht werden.


Nota. - Bis weit in die neunziger Jahre laute der letzte Schrei in der Jugendhilfe Fremdunterbringung nach Möglichkeit vermeiden! Das klang beinahe revolutionär - war doch das Heim ein Jahrhundert lang sowohl Fundament als auch Schlussstein der Jugendfürsorge gewesen! Dem Geist der Zeit und namentlich der "Heimkampagne" des Jahres '68 folgend, sollte aus der behördlichen Fürsorge nunmehr sozialarbeiterliche Hilfe werden; festgeschrieben im neuen Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz, das nach langen Wehen 1991 endlich das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahre 1927 ersetzt hat.

Wollte da ein Bürokratie freiwillig auf den Zugriff auf ihre Untertanen lockern? Ach, weit gefehlt. Es schoss vielmehr die Plethora der ambulanten Maßnahmen ins Kraut, die vielen Sozialarbeitern neue Beschäftigungsmöglichkeiten schafften und die im Hintergrund lauernden Heime erst dann in Anspruch nahmen, wenn sich die ambulant Maßgenommenen über Jahre als restistent erwiesen hatten und als Ultima Ratio "nichts anderes mehr übrigblieb" - und dann wiederum die Erwartung bestätigten, dass Fremdunter- bringung nichts bringt. Ein Zirkel, der viele Steuermittel kostete und nur den Professionellen und dem See- lenfrieden der Verwaltungen gedient hat.

Aber es wurde immerhin so getan, als lägen den behördlichen Entscheidungen fachliche Erwägungen zu Grunde.

Seit Mitte der neunziger Jahre stand auch die Jugendhilfe im Zeichen des Sparens. Die Stadtkämmerer konnten auch bei gutem Willen dem unvermeidlich Ruf nach mehr Personal nicht mehr nachgeben, und den Jugendämtern blieb nichts übrig, als allüberall nach den billigsten Angeboten zu suchen. Die Folgen sind verheerend. Von fachlichen Debatten in Jugendhilfe und Sozialarbeit ist - mindestens in der interessierten Öffentlichkeit - nichts mehr zu hören, Jedem sitzt das Hemd näher als die Hose, und alle machen klein-klein.

Und darum erleben wir ein Anschwellen der... Femdunterbringung! Dass das alles am Ende doch nur immer teurer wird, ist noch der geringste Skandal. Dass viele tausend Leben schon in frühen Jahren beschädigt werden, ist ein viel größerer.

Der allergrößte ist aber, dass seit einem Vierteljahrhundert die Alternativen bekannt sind - aber gegen den Willen einer gefräßigen Bürokratie nie ein Chance bekamen.
JE

Donnerstag, 14. September 2017

"Besser wär's, dieses Buch wäre veraltet."


Heute vor 150 Jahren veröffentlichte Marx sein Hauptwerk «Das Kapital». Aus Sicht unseres Gastautors sind die Phänomene, die Marx damals beschrieb, aktueller denn je. «Damit sägt der Kapitalismus am eigenen Ast», schreibt Christoph Henning, Junior Fellow für Philosophie am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.


«Im Ergebnis schwirrt das Kapital auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten verzweifelt umher. Es versucht Löhne zu senken, Standards zu unterlaufen, politische Widerstände zu brechen, Menschen in Kunden zu verwandeln und die letzten Refugien dem Markt einzuverleiben.»
Wirtschaftskrisen gehörten für Marx als ganz natürliches Phänomen zum Kapitalismus. Er unterschied drei Typen:
  • Die Dauerkrise der sozialen Ungleichheit. Schliesslich schafft der Kapitalismus grossen Reichtum, aber nun einmal nicht für alle.
  • Marktungleichgewichte führen zu regionalen Überangeboten oder Engpässen. Preise fallen oder steigen, es kommt zu Bankrotten und allgemein zu Kapitalvernichtung. Das Problem: «Alle Beteiligten produzieren auf Verdacht – also anarchisch – und konkurrenzieren sich gegenseitig in Grund und Boden», schreibt Henning.
  • Der Konkurrenzkampf führt letztlich dazu, dass Unternehmen immer effektivere Maschinen einsetzen. In der Folge sinken die Preise, aber auch die Löhne. Es muss mehr produziert werden, die Profitrate sinkt. «Da durch die Mechanisierung der Anteil der Arbeit an den Produkten sinkt, vertrocknet die Quelle des Profits allmählich (nämlich die Arbeit, aus der Mehrarbeit gezogen werden kann)
Denkt man darüber nach, man findet Beispiele für all diese von Marx beschriebenen Phänomene. Nur, wann hört man einen Politiker oder Wirtschaftsboss sich auf «Das Kapital» berufen?



Mittwoch, 13. September 2017

Der deutsche Pass ist am wertvollsten.


... Bereits zum sechsten Mal ist Deutschland Spitzenreiter, es folgen die beiden zweitplacierten Frankreich und Dänemark sowie Island. Diese Staatsbürgerschaften sind laut einem Index, der den wirtschaftlichen Nutzen von 159 Nationalitäten misst, weltweit am wertvollsten für ihre Besitzer.  ...

In den «Henley & Partners - Kochenov Quality of Nationality Index» (QNI) fliessen nämlich verschiedene Faktoren ein. Zum einen sind dies die Wirtschaftskraft des Landes (mit einem Gewicht von 15%), die Faktoren Gesundheit, Ausbildung und Lebensstandard (15%) sowie die Sicherheit und die politische Stabilität des Landes (10%).

Zum anderen spielen aber auch externe Faktoren wie die Niederlassungs- und Reisefreiheit (15%) eine Rolle, die Wirtschaftskraft und die Lebensqualität der Länder, in denen man sich dank der Nationalität niederlassen (15%) kann, das visumfreie oder erleichterte Reisen (15%) und die Lebensqualität der Länder, in die dank dem Pass ohne vorgängigen Visumantrag gereist werden kann (15%).

...


Merkels Projekt für Deutschland.



Sie hat keinen Plan für Deutschland, sie wurschtelt nur? Sie hält keine Volksreden, Rhetorik ist nicht ihr Fach. Sie muss auch nicht mehr reden. Welchen Plan sie für Deutschland hat, hat sie 2015 gezeigt: 

Deutschland braucht ein starkes Europa, und um Europa stark zu machen, muss es den Hauptbeitrag leisten.

Vielleicht ist es ihr ja selbst erst durch Griechenland und die Flüchtlinge klar geworden; aber das ist es. Wenn sie sagt "Sie kennen mich", weiß seither jeder, was gemeint ist - besser, als wenn ein Rhetoriker spräche. 




Samstag, 9. September 2017

Lebensmittelindustrie in der Eisenzeit.

prähistorisches Salzbergwerk
aus derStandard.at, 18. August 2017, 15:43

Hallstatt: 
Tausende Schweineknochen als Hinweis auf eisenzeitliche Speck-Industrie 
Tiere dürften in großen Herden aus dem Alpenvorland nach Hallstatt getrieben worden sein
 
Wien/Hallstatt – Im Hallstätter Salzbergtal dürfte vor 3.000 Jahren Speckproduktion in quasi-industriellem Maßstab stattgefunden haben – vielleicht war es sogar die älteste massenweise Verarbeitung von Schweinefleisch in Europa. Woher die Tiere stammten, war bislang unbekannt. Laut Experten des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien haben DNA-Untersuchungen nun aber ergeben, dass die Spur an die Donau und in den Süden Österreichs führt.

Als Hinweis dienen über 6.000 Schweineknochen aus dem Salzbergtal, die von Archäologen untersucht wurden. Die enorme Anzahl an Knochen habe die Frage aufgeworfen, woher die Schweine gekommen seien, da es in der näheren Umgebung im Winter für große Schweineherden nicht ausreichend Futter gegeben habe, sagt Hans Reschreiter von der prähistorischen Abteilung des NHM, der die Ausgrabungen und Forschungen im prähistorischen Salzbergwerk Hallstatt leitet. 

Schweinetrieb in großem Stil

Deshalb habe man angenommen, dass bereits vor 3.000 Jahren ein logistisches System bestanden haben müsse, über das die Schweine angeliefert wurden. DNA-Untersuchungen des NHM und der Veterinärmedizinischen Universität (Vetmed) Wien hätten nun einen ersten Beleg dafür erbracht.

Hunderte kastrierte Schweine im besten Schlachtalter von zwei bis zweieinhalb Jahren seien jedes Jahr nach Hallstatt getrieben und tranchiert worden, um anschließend in riesigen Holzbecken gepökelt und im Bergwerk getrocknet zu werden, sagt Reschreiter. Der Archäologe untersucht das Beziehungsgeflecht des einstigen Wirtschaft- und Industriebetriebs Hallstatt.

Die Auswertung der Knochen habe ergeben, dass die Tiere von Schweinezüchtern im Alpenvorland entlang der Donau oder im Süden (Judenburger und Klagenfurter Becken) stammten, so Reschreiter. Deren große Schweineherden haben vermutlich in Eichenmischwäldern gelebt und sich im Winter selbst von den abgefallenen Eicheln ernährt. In einem weiteren Projekt soll nun die DNA von einer noch größeren Anzahl an Knochen untersucht werden, um dieses Ergebnis zu überprüfen, sagte der Experte. 

Die Verarbeitung

Zudem seien die Tiere in einer ganz speziellen Tranchiertechnik zerlegt worden, so Reschreiter: "Dabei werden die Schweine nicht wie heute üblich vom Bauch her geöffnet, sondern es wird am Rücken begonnen und der Brustkorb ausgelöst." Diese Technik finde sich bis heute in Teilen Kärntens, die als Zulieferregionen des bronzezeitlichen Hallstatt infrage kämen, und habe sich möglicherweise 3.000 Jahre gehalten, sagte der Wissenschafter.

Das Handelsnetzwerk wurde auch für die Beschaffung von Betriebsmitteln genutzt. "Bei den Werkzeugstielen sehen wir bereits um 1200 v. Chr., dass Hunderte davon aus dem Alpenvorland nach Hallstatt importiert wurden", so Reschreiter. Das dortige Salzbergwerk sei ein hochorganisierter Betrieb gewesen, der Nahrung, Betriebsmittel und auch Kleidung für die Bergleute bereitgestellt und so eine reibungslose Salzproduktion gewährleistet habe. Die Abbauorte waren für jahrzehntelangen Betrieb ausgelegt, berichtete der Archäologe. (APA, red, )


Veranstaltung:
Die Organisation des prähistorischen Bergbaus können Interessierte dieses Wochenende direkt an Ort und Stelle entdecken. Das NHM Wien und die Salzwelten Hallstatt laden am 19. und 20. August zu der Veranstaltung "Archäologie am Berg" ein, die dieses Jahr zum Thema "Wenn Knochen sprechen und Hightech in die archäologische Forschung einzieht" stattfindet. Archäozoologen, Anthropologen und Geologen stellen aktuelle Forschungsprojekte in der NHM-Außenstelle Hallstatt vor und ermöglichen einen Einblick in das Leben der Hallstätter Bergleute.

Mehr zu den Forschungen in Hallstatt im Archäologieblog:

Mittwoch, 6. September 2017

Patrilokale Exogamie im frühgeschichtlichen Schwaben.

aus Die Presse, Wien,

Als Migrantinnen ins Lechtal kamen
Männer blieben sesshaft, Frauen wanderten: Das lesen Archäologen aus 4000 Jahre alten Knochen.

 

Die Geschichte des Homo sapiens war immer auch eine Geschichte der Migrationen. Die man sich nur in den seltensten Fällen – auch in dem der sogenannten Völkerwanderung nicht – so vorstellen kann, dass ein ganzes Volk – was immer das auch ist – seine Heimat verlässt und mit Sack und Pack auf Wanderschaft geht, wie laut biblischem Mythos das israelitische Volk aus Ägypten durch die Wüste nach Kanaan.

Es ist auch nicht gesagt, dass beide Geschlechter gleichermaßen wandern. So sehen manche Soziologen in der heutigen Migration aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa das Problem, dass deutlich mehr – vor allem junge – Männer kommen als Frauen.

Das war im Gebiet des heutigen Bayern vor 4000 Jahren – als dort noch lange keine Bayern waren – ganz umgekehrt, berichten nun Archäologen um Philipp Stockhammer (Jena, München). Sie analysierten Gebeine von Ausgrabungen archaischer Friedhöfe im Lechtal kurz vor Augsburg. Ihr Ergebnis: Damals waren dort die meisten Frauen offenbar Zugereiste, während die Männer ihr Leben lang in der Gegend ihrer Geburt blieben. Man spricht von Exogamie (Eheschließung außerhalb der Gruppe) und von einem patrilokalen Muster, das offenbar über 800 Jahre vorherrschte, von 2500 bis 1700 vor Christus.

Begraben nach örtlicher Sitte

Lesen kann man das aus der mitochondrialen DNA, das ist DNA außerhalb des Zellkerns, die nur von der Mutter an ihre Kinder vererbt wird. Aus Isotopenanalysen – untersucht wurde vor allem Strontium im Zahnschmelz – kann man auch lesen, dass die Frauen erst als Erwachsene eingereist waren. Begraben wurden sie jedenfalls nach lokaler Manier, acht trugen etwa einen typischen Kopfschmuck. Das spricht dafür, dass sie in die dörflichen Strukturen integriert waren. Seltsam ist nur, dass die Forscher via DNA keine Nachkommen der zugereisten Frauen nachweisen konnten. 

Bekamen sie keine, womöglich aus kulturellen Gründen? Oder zogen die Kinder gleich wieder fort?
Offen ist auch: Waren die Frauen allein gereist, aus eigenem Antrieb? In Frauengruppen? Oder gingen die Männer auswärts auf Brautschau? Vielleicht gar auf Brautraub? Auch das verraten die Knochen nicht. Interessant ist diese Wanderung der Frauen auch, weil in Mitteleuropa damals der Übergang von der späten Jungsteinzeit (der Glockenbecherkultur) zur Bronzezeit stattfand. 
 
Verbreiteten die Frauen die neuen Technologien? Exogamie und weibliche Mobilität seien „eine Triebkraft der regionalen und supraregionalen Kommunikation und Wissensweitergabe“ gewesen, schreiben die Archäologen in Pnas (4. 9.), und Stockhammer erklärt: „Es scheint, dass das, was man für Migration von Gruppen hielt, auf einer institutionalisierten Form individueller Mobilität beruht.“


Nota. - So eine Meldung ist wirklich nur für Leute mit fachwissenschaftlichem Spezialinteresse des Lesens wert. Deswegen bringe ich sie auch nicht; sondern weil sie ein bizarres Beispiel für die Kapriolen der heute vorge- schriebenen geschlechtergerechten Sprache bietet. 

Seit die frühen Menschengemeinschaften sich in kleinen Gruppen niedergelassen hatten, gab es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Entweder sie vermehrten sich innerhalb ihrer Gruppe - endogam. Das ist das Nächstliegende, führt aber im Laufe der Generationen zu Inzucht und zu einer Veramung des genetischen Pools. 

Oder sie suchten ihre Partner auswärts - exogam. Dann gab es wieder zwei Möglichkeiten: Die Frauen blieben zuhaus, matrilokal, und holten die Männer von außen. Oder die Männer blieben daheim, patrilokal, und suchten sich fremde Frauen; wobei es vorgekommen sein wird, dass sie sie raubten; was umgekehrt wenig wahrschein- lich ist. Welche Lösung die übliche wird, dürfte von der Vererblichkeit des Grundbesitzes abgehangen laben - matrilinear oder patrilinear.

Bis hierhin humorlose, trockene Prosa, hier war es so, dort war es so.

Aber wir leben in problembewussten und rundum korrekter Zeit.
Die Süddeutsche titelt: "Träge Männer, mobile Frauen."
Der Tagesspiegel: "Die Frauen der Bronzezeit waren Wandervögel."
Der Wiener Standard: "Mitteleuropäische [oha!] Frauen der Bronzezeit waren sehr mobil." 

Es geht aber besser: Die oberpfälzer Website Onetz schreibt: "Fortschritt dank Einwanderinnen - Bronzezeit-Damen waren entscheidende Kulturträger."
Der Deutschlandfunk: "Wissenstransfer - Frauen waren wandernde Coaches."
Science.orf: "Mit den Frauen wanderte das Wissen."

Am besten rafft es aber... Die Welt: "Erst mit den Frauen kam das Wissen in die Welt." 

Sehen Sie in Ihrer Regionalzeitung nach, da werden Sie noch andere Varianten von geschlechtergerechter Sprache finden.

Machen Sie sich die Müh und klicken Sie auf meine Links: Sie werden finden, dass es sich beim Anteil der Frauen am Techniktransfer um ein bloßes Wähnen des ausgrabenden Professors handelt, das auf keinem archäo- logischen Befund, vermutlich aber in der Hoffnung auf Drittmittel gründet.

Wobei untergeht, was an diesen Ausgrabungen die wirkliche Sensation ist: Sie haben sich die fremden Frauen offenbar nicht für die Fortpflanzung geholt! Das ist ein wirkliches Mysterium und eine Herausforderung für die Historiker.
JE


Montag, 4. September 2017

Versemmelt.



Heut gleich nochmal die Süddeutsche: Heribert Prantl kommentiert das gestrige Treffen der Kanzlerin mit dem Kandidaten.

Alles in allem: Kein Mensch weiß nach dieser Sendung, warum Schulz unbedingt Kanzler werden sollte. Aber jeder Mensch weiß, dass die Moderatoren nicht in der Lage waren, eine Diskussion darüber anzuzetteln. Höhe- punkt des Wahlkampfs? Mitnichten. Das wurde gründlich versemmelt.


Sonntag, 3. September 2017

Das Grundeinkommen fördert den Unternehmergeist jedes Einzelnen.

aus Der Standard, Wien, 3. September 2017

"Grundeinkommen ist eine Investition in die Zukunft" 
Das bedingungslose Grundeinkommen wird immer populärer. Ökonom Philip Kovce erklärt, warum es ein Gewinn für die Gesellschaft wäre

Interview
 
STANDARD: Herr Kovce, Sie sind ein vehementer Verfechter des Grundeinkommens. Arbeiten Sie heute, oder haben Sie frei?

Philip Kovce: Ich bin nicht unfrei, wenn ich arbeite. Mit dem Begriff Freizeit kann ich also nicht viel anfangen. Die Trennung von Arbeit und Freizeit entstammt dem frühen Industriekapitalismus und ist inzwischen längst überholt. Wer Arbeitszeit als freie Zeit begreift, strebt nicht mehr danach, seine Lebenszeit in Arbeitszeit und Freizeit aufzuspalten.

STANDARD: Für die meisten geht sich das Konzept finanziell wohl nicht aus.

Kovce: Welch ein Irrtum! Ich bin nicht unproduktiv, wenn ich freiwillig tätig bin. Im Gegenteil: Freiwilligkeit ist die beste Voraussetzung für gute Leistung. Ich kann die Bedürfnisse anderer umso besser wahrnehmen, je freier mein Blick ist. Wer hingegen finanziell gezwungen ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, der gefährdet sich selbst und andere. Er leistet während der Arbeitszeit Dienst nach Vorschrift und agiert hinterher als unglücklicher Komakäufer auf Schnäppchenjagd nach Ersatzbefriedigung.

STANDARD: Menschen, die kreative Arbeit machen, sehen das vielleicht anders als eine Reinigungskraft.

Kovce: Das Problem ist doch: Jeder noch so unkreative Belanglosigkeitskünstler schaut heute auf all die weltbewegenden Pflege- und Reinigungskräfte herab, denen er fehlende Freiwilligkeit unterstellt und die er schon allein deshalb kaum wertschätzt. Dieser Anmaßung liegt weniger ein ökonomisches als vielmehr ein kulturelles Problem zugrunde. Wertschöpfung und Wertschätzung sind zunächst keine ökonomischen, sondern kulturelle Fragen.

STANDARD: Demnach ist uns die Pflege von Angehörigen wenig wert, die Vermehrung von Geld sehr viel. Wobei Letzteres Algorithmen nicht schlechter machen als Menschen. Worauf sollten wir uns einstellen?

Kovce: Digitalisierung ersetzt Menschen als Rechenmaschinen, nicht als Menschen. Alle monotonen, berechenbaren Tätigkeiten lassen sich früher oder später automatisieren. Aufmerksamkeit, Fantasie und Zuneigung lassen sich allerdings nicht automatisieren.

STANDARD: Anfangs überwogen in der Debatte jene, die einen Jobkahlschlag prognostizierten. Jetzt liegt der Schwerpunkt auf den vielen potenziell neu entstehenden Jobs. Kommt damit der Grundeinkommensidee ihre Basis abhanden?

Kovce: Es geht ja beim Grundeinkommen ganz grundsätzlich um die Zukunft der Arbeit. Und dafür gilt: Maschinen werden alle Tätigkeiten übernehmen, die sich mit Zählen, Messen, Wiegen befassen. Von Menschen werden ausschließlich unberechenbare Leistungen gefordert sein. Das sind genau jene Tätigkeiten, die sich nicht standardisieren und auch nicht durch klassischen Leistungslohn vergüten lassen. Sie sind unbezahlbar und auf die Freiwilligkeit angewiesen, welche das Grundeinkommen ermöglicht.

STANDARD: Sie verfassen Manifeste, denken an Volksabstimmungen. Warum? Sie könnten sich damit bescheiden, dass als Unternehmer jeder intrinsisch motiviert arbeiten kann, wenn er will.

Kovce: Was brauchen Unternehmer? Intrinsisch motivierte Mitarbeiter. Die müssen erst einmal gefunden werden angesichts all der äußeren Zwänge, einer Erwerbsarbeit nachgehen zu müssen. Das Grundeinkommen fördert den Unternehmergeist jedes Einzelnen – sodass wir besser für andere und besser zusammenarbeiten können. Deshalb befürworten viele Unternehmer die Idee.

STANDARD: Besonders Vertreter der Technologie-Elite aus dem Silicon Valley. Weil sie um Kundschaft und Geschäftsmodelle fürchten, wenn mehr Menschen prekäre Jobs haben, sagen Kritiker.

Kovce: Auch Pragmatiker haben das Recht, gute Ideen zu befürworten. Allerdings ist der Silicon-Valley-Diskurs in Sachen Grundeinkommen nicht besonders ergiebig. Dort geht es vor allem darum, Menschen als Konsumäffchen mit einer Konsumpauschale auszustatten, damit sie sich das nächste Smartphone leisten können. Während es dem Silicon Valley um Kundenbindung geht, geht es beim Grundeinkommen um ein neues Grundrecht, das den Einzelnen aus Zwängen befreit und die Gesellschaft weiter voranbringt.

STANDARD: Experimente mit Grundeinkommen hatten keine langfristigen Auswirkungen. Ist es doch ein schöner Papiertiger?

Kovce: Daraus lassen sich keine Rückschlüsse auf die Wirkungen eines Grundeinkommens ziehen.

STANDARD: Warum?

Kovce: Weil sich das Grundeinkommen ebenso wenig testen lässt wie sich Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaat testen lassen. Das Grundeinkommen erhalten alle Mitglieder eines Gemeinwesens lebenslang. Viel interessanter als wissenschaftliche Experimente sind eigene Erfahrungen: Wie wirken Bedingungslosigkeit und Zwang? Welche Leistungen bedürfen äußerer Anreize, welche entstehen freiwillig? Die Antworten darauf sind im Alltag zu suchen, nicht in weltfremden Modellversuchen.

STANDARD: Was die Finanzierbarkeit betrifft, gibt es unterschiedliche Szenarien. Laut den meisten Modellberechnungen wäre es teuer.

Kovce: Teuer ist es vor allem, die derzeitigen Sozialsysteme, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und sich längst überlebt haben, weiter zu subventionieren. Das Grundeinkommen ist eine Investition in die Zukunft. Es kostet uns nicht Geld, sondern die Überwindung überkommener Vorstellungen. Wenn wir es wollen, wird es möglich sein.


Philip Kovce (31) ist Ökonom und Philosoph und forscht am Basler Philosophicum, am Wittener Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Philosophie und ist Mitglied des Thinktanks 30 des Club of Rome. 2006 gründete er in Berlin mit anderen die Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen. Zudem gehört er dem Forschungsnetzwerk Neopolis an.

Samstag, 2. September 2017

In der Zielgeraden.


Die Süddeutsche hat seit Jahr und Tag bei ihren Lesern keinen Zweifel aufkommen lassen, welche Regierung ihr lieber wäre als die gegenwärtige. Doch vor dem morgigen Einlauf in die Zielgerade kann auch sie sich ein realistisches Wort nicht verkneifen.


Wer sagt, Merkel lulle Wähler ein, der misstraut den Wählern

Das Aufeinandertreffen zweier Spitzenkandidaten unter stark ritualisierten Bedingungen wird noch unentschlossenen Wählern einen Eindruck von den handelnden Personen geben. Am ehesten erkennt man dabei Unterschiede zwischen den Persönlichkeiten, weniger aber zwischen den Grundzügen der von ihnen vertretenen Politik. Im Deutschland der großen Koalitionen ist dies besonders deutlich. Die SPD hat an allem, was Schulz in den vergangenen vier Jahren zu kritisieren hat, mitgewirkt. Mehr noch: Sie trägt mit Ausnahme der schwarz-gelben Jahre zwischen 2009 und 2013 seit 1998 Regierungs- oder Mitregierungsverantwortung. Im Falle Merkels werden viele wählen, was sie kennen. Im Falle der SPD werden viele nicht wählen, was sie kennen.

Weil es nicht so gut um den Spitzenkandidaten Schulz und seine Partei steht, hört man oft, das sei so, weil Merkel die Auseinandersetzung scheue oder die Wähler einlulle. Letzteres ist im Prinzip Wählerbeschimpfung, denn es besagt ja, dass "die Leute" zu dumm oder zu faul seien, sich intensiver mit Politik zu beschäftigen. Wer nicht will, lässt sich nicht einlullen. Und viele, die Merkel als Kanzlerin behalten wollen, tun das nicht, weil sie eingelullt wären, sondern weil sie Merkel mehr vertrauen als Martin Schulz. Das ist das wirkliche Problem der SPD und nicht etwa, wie vielen Fernsehduellen sich Merkel stellt.


Nota. - 'Am ehesten erkennt man dabei Unterschiede zwischen den Persönlichkeiten, weniger aber zwischen den Grundzügen der von ihnen vertretenen Politik.' Das liegt aber nicht am Format, vergisst die Süddeutsche zu präzisieren, sondern daran, dass eine zu vertretende Politik so sehr unterschiedlich gar nicht sein kann; die mei- sten Unterschiede betreffen Fragen, über die man in der Tat verschiedener Meinung sein kann und die pragma- tisch mit gesundem Menschenverstand zu lösen sein werden. Das ist es, was die Mehrheit der Deutschen Angela Merkel eher zutraut als ihrem aus dem Ärmel gezogenen "Herausforderer". Den werden, da hat die Süddeutsche Recht, so viele Deutsche nicht wählen, weil sie zwar nicht ihn, sehr wohl aber seine Partei kennen.
JE