Dienstag, 8. Oktober 2013

Zigeuner sagt man nicht.

aus NZZ, 8. 10. 2013                                                                                                      Lajos Kúnffy, Zwei Zigeuner, 1910

Roma? Sinti? Zigeuner?
Verbreitete Unsicherheit im medialen Umgang mit Europas grösster Minderheit
 


Seit der Personenfreizügigkeit in Europa sind die Roma in die Schlagzeilen gerückt. Im Bemühen um politische Korrektheit entstehen jedoch Berührungsängste. Das erschwert die Berichterstattung.

von Martin Woker

Wie einfach haben es doch die Englischsprachigen. Sie können von «gypsies» sprechen oder schreiben, ohne dass ihnen jemand schlechte Absichten unterstellen würde. Nicht so die Deutschsprachigen. Der Begriff Zigeuner ist politisch höchst unkorrekt. Man sagt Roma, wurde uns in den letzten zwei Jahrzehnten gelehrt. Und das respektieren gar jene, die sich sonst rühmen, die Dinge beim Namen zu nennen. Von «Roma-Raubzügen» schrieb ein hiesiges Wochenblatt im Vorjahr; es erzeugte damit (und mit einem provokativen Titelblatt) breite Empörung und handelte sich eine Rüge des Presserats ein. Jene, die keine Gelegenheit verpassen, sogenannte Gutmenschen in die Pfanne zu hauen, waren um eine Lehre reicher: Selbst politisch korrektes Vokabular schützt vor Strafe nicht.

Etwas stimmt da nicht

Gar doppelt verboten wäre, was in balkanischen Revolverblättern noch üblich ist: das Wort Zigeunerkriminalität. Eine erwiesenermassen benachteiligte und marginalisierte Minderheit darf man hierzulande nicht pauschal verurteilen. Selbst wenn nach Straftaten alle Indizien auf die Täterschaft eines Roma-Clans hindeuten, wird in offiziellen Verlautbarungen im westlichen Europa auf eine allfällige ethnische Zuschreibung meist verzichtet.

Irritierend daran ist, dass viele der Angehörigen dieser Minderheit sich selbst als Zigeuner bezeichnen. Den Plural ihrer Eigenbezeichnung, Roma, kennen sie allenfalls vom Hörensagen, aber weder die männliche Form Singular (Rom) noch die weibliche Form (Romni) ist ihnen geläufig. Irgendetwas stimmt da nicht. Doch was?

In Europa leben zwischen acht und zwölf Millionen Roma. Dass dem so ist, wurde einer breiteren Öffentlichkeit erst mit dem Gewähren der Personenfreizügigkeit für die EU-Staaten im Osten und Südosten Europas überhaupt bewusst. Mit eigenen Augen gesehen hatte man bis dahin «Zigeuner» allenfalls in der Camargue. In Liederbüchern und Filmen waren sie romantisch überhöht aufgetaucht. Und man glaubte zu wissen, es handle sich bei ihnen um die letzten nicht sesshaften Europäer. Zum medial verbreiteten Allgemeinwissen zählte die chronische Knappheit der Standplätze für Fahrende, was periodisch Lokalbehörden in Not brachte und immer noch bringt. Dieser Dauerbrenner in der Regionalberichterstattung festigte den Umstand, dass Fahrende und Zigeuner synonym verwendet wurden und darob eine heillose Begriffsverwirrung entstand, die bis heute anhält.

Verbreitetes Unwissen

Die Ursache der Unschärfe gründet in einem verbreiteten Unwissen über Europas grösste ethnische Minderheit. Hinzu kommt eine gewisse Berührungsangst seitens wohlmeinender Medienleute. Das Thema ist ein mediales Minenfeld. Es droht den Autoren die Gefahr, als Rassist oder Naivling hingestellt zu werden. Fachkundige Anleitung tut not. Der Sache angenommen hat sich die deutsche Südosteuropa-Gesellschaft unlängst an einer Konferenz zum Thema der Bildungssituation von Roma. Aus aktuellem Anlass wurde die Lage in Duisburg thematisiert, wo im Quartier Rheinhausen das Verhalten rumänischer Zuwanderer die Medien in Atem hält. Der Fall ist beispielhaft für eine Situation, die derzeit von Skandinavien bis Italien für Schlagzeilen sorgt.

Die Ursache der Aufregung ist jeweils ähnlich: eine örtliche Massierung von Zuwanderern aus Südosteuropa, die mangels Alternative in einer ghettoähnlichen Umgebung leben. Bei den Bewohnern dieser teilweise illegalen Siedlungen und überbelegten Wohnbauten handelt es sich fast ausschliesslich um Roma. Allein diesen Umstand zu erwähnen, fällt deutschen Amtsstellen aber schwer, weil sie sich um keinen Preis dem Vorwurf des Antiziganismus aussetzen wollen. Mit gutem Grund. Im Bundesland Baden-Württemberg soll Antiziganismus noch in diesem Jahr zum Straftatbestand erhoben werden. Speziell in Deutschland ist politische Korrektheit im Umgang mit Roma wohl begründet. Dem Rassenwahn der nationalsozialistischen Ideologie sind in Vernichtungslagern über 200 000 Roma zum Opfer gefallen.

Seltsame Doppelbezeichnung

Im Zuge der lange schleppend vorangekommenen Aufarbeitung dieses Unrechts etablierte sich als führende Dachorganisation aller einstigen Opfer der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Die Bedeutung dieses Gremiums und dessen mediale Präsenz hatten in Deutschland zur Folge, dass «Sinti und Roma» zur stehenden Wendung wurde. Entwicklungsgeschichtlich ist der Begriff wenig sinnvoll, weil es sich bei den Sinti um eine Untergruppe der Roma handelt, die seit dem 18. Jahrhundert im heutigen Deutschland beheimatet ist und dort teilweise assimiliert wurde. Doch es bleibt dabei: Wer sich in Deutschland korrekt ausdrücken will, verwendet stets den Doppelbegriff «Sinti und Roma» - wenn auch der Singular, nämlich Sinto und Sintiza, nur wenigen geläufig ist.

Schwierig wird die Sache nun im Fall von Duisburg und jenen vielen andern Orten, wo Roma aus Südosteuropa zum medialen Thema werden; Sinti sind meist keine unter ihnen. Sie aber einfach nach ihrer nationalen Herkunft zu benennen - Ungarn, Slowaken, Bulgaren, Serben, Albaner - geht auch nicht, weil in diesem Fall unweigerlich die jeweilen diplomatischen Gesandtschaften Protest einlegen. In Sofia, Budapest, Pristina, Belgrad und Bukarest ist man der negativen Schlagzeilen satt, die, so heisst es jeweils, «von einer kleinen Minderheit ihrer Landleute» verursacht werden und der Mehrheitsbevölkerung eine beträchtliche Rufschädigung beifügten.

Im Falle des Strassenstrichs in Zürich, wo junge Prostituierte aus Ostungarn für Schlagzeilen sorgten, war es im Interesse der ungarischen Behörden, die betreffenden Frauen als Roma bezeichnet zu sehen. Die Präzisierung ist ihnen wichtig.

Der prüfende Blick

Viele Bewohner des Balkans und Mittelosteuropas rühmen sich, ihrem Gegenüber eine allfällige Roma-Abstammung anzusehen, unbesehen davon, ob Name oder Aussehen einen Hinweis darauf geben. Während der sozialistischen Regierungszeit waren die Roma insofern kein Thema, als sie von offizieller Seite als unterprivilegierte Gesellschaftsschicht galten. Deren vollständige Integration in die Gesellschaft der Werktätigen war das Ziel. Sesshaftigkeit, wo nicht vorhanden, wurde behördlich verordnet. Über die Einhaltung der Schulpflicht wachte die Polizei, und die Möglichkeit zu unqualifizierter Arbeit in Staatsbetrieben wurde, wo nicht ohnehin vorhanden, für die Roma geschaffen. Als Folge dieser oft mit menschenverachtender Härte durchgeführten Politik erreichte die Assimilation der Roma besonders in Rumänien einen vergleichsweise hohen Stand.

Die Situation änderte sich schlagartig nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme. Die Roma-Bevölkerung war auf den Systemwechsel am schlechtesten vorbereitet. Im Zug der Privatisierung von Staatsbetrieben fielen die Jobs für Unqualifizierte als erste dem Zwang zur Produktivitätssteigerung zum Opfer. Und für den Erwerb von ehemals staatlichem Wohnraum fehlte den über Nacht mit Erwerbslosigkeit konfrontierten Roma das nötige Geld. Eine der Folgen davon war die Bildung informeller Roma-Quartiere, wie es sie in den Städten Südosteuropas vor der Systemwende nicht gegeben hatte. Weil Kinder in solchen Vierteln oft zum wirtschaftlichen Überleben der Familien beitragen müssen, gehen sie kaum zur Schule. Die Folge ist ein wachsender Analphabetismus in den Roma-Ghettos Südosteuropas, demgegenüber die staatlichen Institutionen wegen fehlender Mittel meist hilflos sind.

Staatliche Förderprogramme für Roma in Osteuropa, oft von Mitteln der EU alimentiert, lösen unweigerlich Neid unter den andern Verlierern des Systemwechsels aus. Ausdruck davon sind jeweils Aufmärsche rechtsextremer Nationalisten in Roma-Quartieren, wie sie regelmässig in Ungarn, aber auch in andern Ländern im Osten Europas zu beobachten sind. Auch in Deutschland zieht die medial aufbereitete Aufregung über Roma jeweils rechtsextreme Bewegungen an, die auf den Zug eines latenten Hasses auf alles Zigeunerische aufzuspringen versuchen. So hatte die unter dem Namen «Pro Deutschland» firmierende ausländerfeindliche Bewegung in Duisburg die Lage auszunutzen versucht. Mehrere hundert Gegendemonstranten stellten sich dem Aufmarsch schliesslich entgegen.

Die Lokalbehörden gerieten zwischen die Fronten, weil sie über die tatsächlichen Probleme in dem betroffenen Quartier Rheinhausen im Bild sind. Dort wohnen laut Schätzungen der Polizei in mehreren älteren Wohnblöcken rund 1400 Roma-Zuwanderer in insgesamt 74 Wohnungen. Die Überbelegung der Infrastruktur führte zu etwelchen Immissionen, was Klagen in der Nachbarschaft bewirkte und offenbar auch die Liegenschaftspreise sinken liess.

Exakt diese Situation kennt man in unzähligen Kommunen und Städten Südosteuropas zur Genüge. Nötig wäre eine griffige Sozialpolitik, für die aber meistens das Geld fehlt. In Westeuropa ist das Phänomen jünger. Es besteht die Tendenz, etwas voreilig einen tief verwurzelten Antiziganismus zu wittern. Anstatt die real existierenden Probleme als solche zu erkennen und darauf mit sozialpolitischen Massnahmen zu reagieren, erfolgt seitens der Behörden und Medien oft nur die Flucht in ein politisch korrektes Vokabular, um zumindest so guten Willen zu beweisen.

Was heisst RAE?

Ein Beispiel dafür liefert die von internationalen, meist europäischen Funktionären geprägte Beamtensprache in Kosovo, wo konsequent nicht von «Gypsies», sondern von RAE die Rede ist. Diese für Uneingeweihte unverständliche Abkürzung meint «Roma, Ashkali, Egyptian». Während manche der Roma in Kosovo serbischsprachig sind und am Rand von serbischen Siedlungen wohnen, handelt es sich bei den Ashkali und Egyptian um albanischsprachige Roma, ihrerseits eine Untergruppe der Roma.

In der Alltagssprache ist der Begriff RAE unbekannt. Sehr wichtig hingegen ist, dass die RAE in Kosovo den Status einer nationalen Minderheit haben, der ihnen jene Bürgerrechte zugesteht, die in balkanischer Tradition oft nur Mehrheitsbevölkerungen für sich in Anspruch nehmen. Genau darin besteht für Medienleute die grosse Aufgabe: Den besten Beweis der Wertgemeinschaft erbringt Europa im Umgang mit seiner grössten ethnischen Minderheit - egal, wie sie sich selbst bezeichnet.

Gut lesbare Fachliteratur zum Thema: Norbert Mappes-Niediek: Arme Roma, böse Zigeuner. Ch.-Links-Verlag, Berlin 2012. 208 S., Fr. 26.90.


Nota. 

In einem Qualitätsblatt - nein, natürlich nicht der NZZ - las ich einmal diese Unterschrift zu einem Foto: "Eine [1] Sinti- und-Roma-Familie vor ihrem Wohnwagen"....
J.E. 


 

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