Dienstag, 7. Januar 2014

Gibt es überhaupt ein jüdisches Volk?


 
aus NZZ, 7. 1. 2014                                                                                                Rembrandt, Abraham und Isaak

Der Mythos des jüdischen Volks
Ein Gespräch mit dem israelischen Historiker Shlomo Sand


Mit seinen zugespitzten Thesen zur «Erfindung des jüdischen Volkes» hat der 1946 geborene Shlomo Sand viel Kritik und Ressentiments auf sich gezogen; nun liegt ein weiteres Buch von ihm auf Deutsch vor. Im Gespräch mit Ramon Schack erläutert er seine Ideen und formuliert sein Bekenntnis zu Israel.

Shlomo Sand, Sie beginnen Ihr neues Buch, «Warum ich aufhöre, Jude zu sein», mit einer Warnung: «Das Thema dieses Essays werden viele Leser als illegitim, ja sogar als hetzerisch empfinden.» Geht es Ihnen darum, zu provozieren?

In der von Ihnen zitierten Warnung - eigentlich handelt es sich eher um eine Erklärung - führe ich ja noch weiter aus, dass sowohl Judophobe meine Thesen ablehnen werden, denn diese betrachten Juden ja als eine Rasse, wie auch vielleicht säkulare Juden, die sich ihrer Identität nicht sicher sind. Andere werden mich als einen widerwärtigen Verräter voller Selbsthass bezeichnen.

Jetzt haben Sie kurz angedeutet, wer sich alles an Ihrem Buch stören könnte. Es ist doch aber ein Buch über jüdische Identität beziehungsweise Ihre Interpretation davon.

Wenn man über Juden spricht, muss man zuerst einmal unterscheiden zwischen Religion, Kultur und Rasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff Rasse illegitim. Wir glauben heute nicht mehr, dass so etwas wie Rasse existiert. Die Menschen sind mittlerweile ethnisch derart gemischt, dass wir nicht mehr realistisch von Rassen reden können.

Wenn wir über Franzosen, Italiener, Deutsche und so weiter sprechen, dann denken wir dabei nicht an ein naturwissenschaftliches Konzept. Wir denken an eine Gruppe von Menschen, die über eine gemeinsame Sprache verfügen, eine gemeinsame Kultur, eine säkulare Kultur.

Kann man Ihrer Meinung nach von einem «jüdischen Volk» sprechen?

Nein, Juden waren und sind nur durch religiöse Praktiken miteinander verbunden, nicht durch säkulare. Juden in Marrakesch, in Rom, in Paris sprachen und sprechen jeweils Arabisch, Italienisch, Französisch, hörten und hören unterschiedliche Musik, assen und essen unterschiedliche Nahrungsmittel. Warum sollte man diese Menschen als ein Volk bezeichnen?

Vielleicht, weil schon zu biblischen Zeiten von einem «jüdischen Volk» gesprochen wurde?

Wenn Sie einmal in die Bibel schauen oder biblische Schriften studieren, dann stellen Sie schnell fest, dass der Begriff «Volk» dort für alle Menschen angewendet wird, nicht nur für Juden. Der Ausdruck lässt sich so, wie man ihn damals verwendete, nicht auf heutige Begrifflichkeiten übertragen. In meinem neuen Buch erkläre ich gleich zu Beginn recht ausführlich, dass sich der Begriff «Volk» in der Bibel auf die armen Leute im Dorf beziehen kann, auf die Armee oder auf eine religiöse Gemeinschaft.

Wenn Juden kein Volk sind, was sind sie dann?

In der Vergangenheit waren Juden eine der wichtigsten religiösen Gemeinschaften, die den Monotheismus verbreiteten. Ohne das Judentum als Religion gäbe es weder Christentum noch Islam.
Die Juden überlebten als religiöse Gemeinschaft sowohl im Christentum wie auch im Islam; aber die meisten von diesen Juden haben keine einheitliche Herkunft, sondern wurden im Lauf der Jahrhunderte durch Konversion zu Juden - vom 2. Jahrhundert vor Christus bis zum 18. Jahrhundert. Wenn ich die These aufstelle, dass es kein «jüdisches Volk» gibt, behaupte ich aber nicht, dass es zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden nicht eine spezielle Affinität gab und gibt, eine Solidarität. Wenn jemand nach Hitler behauptet, zwischen Juden gebe es keine Solidarität, dann ist er ein Idiot oder ein Krimineller.

Hitler hatte aber keine Schwierigkeiten, einen Juden zu definieren.

Das stimmt nicht. Hitler und die Nazis hatten grosse Schwierigkeiten, zu definieren, was ein Jude ist. Hitlers Behauptung, es gebe eine jüdische Rasse, basiert auf bürokratischem Blödsinn. Er hatte ein grosses Problem, zu definieren, wer oder was ein Jude ist.

Aber die Nazis töteten Millionen von Juden.

Aber basierend worauf? Die Nazis definierten, was ein Jude ist oder was die jüdische Rasse, aber sie konnten es nicht beweisen, was mit der Primitivität ihrer Ideologie zusammenhängt.

Sie konnten sich nicht auf biologische Merkmale verlassen, selbst wenn sie es versuchten; stattdessen orientierten sie sich an Papieren, an bürokratischen Mechanismen. Sie vermassen Schädel, prüften die Länge der Nasen, konnten aber trotzdem nicht beweisen, wer ein Jude ist.

Aufgrund von kulturellen und linguistischen Merkmalen gelang es ihnen, Juden zu definieren und dann zu töten, aber nicht aufgrund des physischen Erscheinungsbildes eines Menschen.

Trotzdem bleibt festzuhalten, dass Antisemiten der unterschiedlichsten Couleur nie grosse Schwierigkeiten damit hatten, Juden zu definieren. Gibt es denn in Israel ein jüdisches Volk?

Ein jüdisches Volk in Israel? Nein. Aber ein israelisches Volk gibt es in Israel.

Warum?

Es gibt keine säkulare jüdische Kultur, die mich als Juden aus Israel mit einem Rabbi in Brooklyn verbindet - beispielsweise. Ein Jude in Bulgarien drückt sich nicht in der gleichen Sprache aus wie ich, wir mögen vielleicht nicht das gleiche Essen, eine säkulare jüdische Kultur existiert nicht.

Wenn es Ihrer Meinung nach kein jüdisches Volk gibt, was bedeutet das dann für den Zionismus?

Das bedeutet, dass die Raison d'être des Zionismus infrage gestellt wird. Der Mythos von einem jüdischen Volk ist einer der ideologischen Grundpfeiler des Zionismus. Wenn man das Wort Volk benutzt, dann muss man davon ausgehen, dass dieses Volk auch ein Territorium benötigt, also den Staat Israel. Das ist der einzige Grund, warum wir den Begriff «jüdisches Volk» benutzen - um diesen Anspruch zu legitimieren.

Möchten Sie denn das Existenzrecht Israels anzweifeln?

Im Gegenteil. Es gibt ein israelisches Volk und eine israelische Nation, welche sich zusammensetzt aus Juden unterschiedlichster Herkunft, von Marokko bis zur Moldau, sowie aus einem Viertel Nichtjuden mit einer gemeinsamen Sprache. Wenn ich bestreite, dass es ein jüdisches Volk gibt, dann bestreite ich natürlich nicht, dass es ein israelisches Volk gibt, welches ein Existenzrecht besitzt. Ich denke aber nicht, dass dieses Land auch einem Rabbi in Brooklyn gehört.

Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, dass Sie mit Ihren Thesen den Feinden Israels Argumentationsmaterial liefern?

Nein. Wenn irgendwelche Feinde Israels meine Thesen studieren, dann stellen sie rasch fest, dass das Existenzrecht Israels für mich nicht zur Debatte steht, wie ich es eben schon ausgeführt habe.

Trotzdem werfen Ihnen Kritiker eine antiisraelische Agitation vor, auch jetzt nach der Veröffentlichung Ihres neuen Buches.

Kritik ist völlig legitim, allerdings hat mich in Israel noch niemals ein Kritiker in die Nähe von Holocaustleugnern gerückt, wie es Henryk M. Broder in Deutschland nach der Veröffentlichung meines Buches «Die Erfindung des Landes Israel» tat.

Was entgegnen Sie darauf? 

Henryk M. Broder ist weder Israeli, noch hat er für Israel gekämpft und sein Leben riskiert wie ich als junger Soldat.
Interview: Ramon Schack 

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