Sonntag, 2. Februar 2014

Die große Zäsur.

aus NZZ, 25. 1. 2014

Zivilisation und Barbarei Der Sommer 1914 als weltgeschichtliche Zäsur und die Deutungen der Intellektuellen. 

Von Herfried Münkler 

Wer sich an der Geschichte orientiert, um sich in seiner Gegenwart zurechtzufinden, kommt nicht ohne historische Interpunktionen aus: Man sucht nach Einschnitten in der Zeit, durch die sich Epochen voneinander trennen lassen und Neues gegen Altes abgegrenzt wird. Sicherlich gibt es fliessende Übergänge, bei denen die Zeitgenossen gar nicht merken, dass sich grundlegend etwas verändert. Wirklich sinnfällig sind nur die Zäsuren, die sich mit einem einschneidenden Ereignis oder einem Epochenjahr verbinden. 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Europas zwischen Ost und West, war ein solches Epochenjahr; 1989, der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks, war ein weiteres Epochenjahr. War auch 1914, der Beginn des Ersten Weltkriegs, ein solches Epochenjahr?

Warum nicht 1917?

Es gibt viele, die das bezweifeln und stattdessen die grosse weltgeschichtliche Zäsur auf das Jahr 1917 datieren, das Jahr, in dem die USA in den grossen europäischen Krieg eintraten, während gleichzeitig in Russland zwei Revolutionen stattfanden, deren zweite die weltpolitische Agenda für sieben Jahrzehnte grundlegend verändern sollte. Der Kriegseintritt der USA, des eigentlichen Siegers im Krieg von 1914 bis 1918, hat die weltpolitische Dominanz Europas beendet, und der Sieg der Bolschewiki in Moskau und Petrograd hat eine Epoche der revolutionären Heilserwartung eingeleitet, in der die Politik sich wie nie zuvor als die alles entscheidende Gestalterin des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens begreifen konnte. Diese Epoche endete, als die zähe Macht der Verhältnisse sich als dem gestalterischen Elan politischer Avantgarden überlegen erwies. Sollten wir also nicht doch den Sommer 1914 als den Abgesang auf das alte Europa und das Jahr 1917 als den Beginn einer neuen Epoche in der Weltgeschichte ansehen?


Als der britische Historiker Eric Hobsbawm die Formel vom «langen 19. Jahrhundert» prägte, hat er dessen Beginn auf das Jahr 1789 und dessen Ende auf 1914 datiert, also eine historische Einheit vom Beginn der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs behauptet. Hobsbawms Epochenzäsuren sind vom Feuilleton wie von der Wissenschaft bereitwillig übernommen worden. Warum eigentlich? Hätte es nicht nähergelegen, das Ende dieser mit einer bürgerlichen Revolution beginnenden Epoche auf den Erfolg einer sozialistischen Revolution, also auf 1917, zu datieren? Oder wenn man die Kriegsgeschichte zum Massstab der Epochenbrüche machen wollte: Wäre dann nicht 1815, der Wiener Kongress und die dort geschaffene Friedensordnung Europas, das angemessenere Datum für den Beginn einer Epoche gewesen, die 1914 mit der Zerstörung dieser Ordnung endete?

Die Festlegung von Zäsuren und die Behauptung von Ligaturen der Geschichte sind nicht zuletzt darum so heikel, weil sich darin immer auch unser politisches Selbstverständnis und damit unsere Zukunftserwartungen niederschlagen. Wir ordnen die Geschichte gemäss unseren Erwartungen und Befürchtungen. Die von uns in die Geschichte eingebrachten Interpunktionen sind nie bloss das Ergebnis objektivierender Beobachtung, sondern reflektieren stets auch unsere Enttäuschungen oder die dennoch aufrechterhaltene Hoffnung, dass sich die Dinge doch noch in unserem Sinn entwickeln.

Ideenpolitische Frontstellung

Die zahllosen deutschen Intellektuellen, die den Kriegsausbruch von 1914, kaum dass er sich ereignet hatte, als eine welthistorische Zäsur feierten, von dem Romancier und Essayisten Thomas Mann über den Philosophen Max Scheler bis zu dem Soziologen Georg Simmel, taten das nicht zuletzt deswegen, weil sie hofften, dass in der neuen Zeit die negativen Effekte der zurückliegenden Jahrzehnte verschwänden: deren Materialismus, die Dominanz des Geldes, das sich von einem Mittel zum Zweck des Lebens gewandelt hatte, und nicht zuletzt die sich immer stärker bemerkbar machende Erosion der sozialen Gemeinschaften. Sie haben sich in diesen Hoffnungen und Erwartungen gründlich getäuscht, denn der Krieg hat all das, was sie zum Verschwinden gebracht wissen wollten, nur noch verstärkt - jedenfalls, wenn man die Entwicklung über einen längeren Zeitraum betrachtet.

Im Unterschied dazu haben die französischen und englischen Intellektuellen das Jahr 1914 weniger als Bruch denn als Kontinuität der Geschichte dargestellt. Der Lebensphilosoph Henri Bergson hat in einem Vortrag in der Académie française gleich nach Kriegsausbruch die Argumentationsrichtung vorgegeben: Es gehe darum, die Zivilisation gegen die Barbarei zu verteidigen. Bergson stellte den Krieg damit in eine lange Kontinuitätslinie der Geschichte, die mit der Verteidigung des Römischen Reichs gegen die germanischen Völkerschaften ihren Anfang genommen hatte. 1914 war für ihn keine Zäsur, sondern ein weiteres Kapitel im endlosen Kampf um die Selbstbehauptung der lateinischen Zivilisation gegen die aus dem Osten, den Steppen Asiens oder den Wäldern Germaniens, andringenden Horden der Barbaren. Man kann Thomas Manns vieldiskutierte Kontrastierung der «Tiefe» deutscher Kultur gegen die «Oberflächlichkeit» französischer Zivilisation nicht verstehen, wenn man sie nicht als Reaktion auf Bergsons Deutung des Krieges begreift.

Die Briten setzten der Bergsonschen Deutung noch eins drauf, indem sie die Deutschen als «Hunnen» bezeichneten, die man abwehren und zurückwerfen müsse. Zu dieser Benennung hatte freilich Kaiser Wilhelm II. das Seine beigetragen, als er im Jahre 1900 bei der Verabschiedung der zur Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands entsandten Marineinfanterie in Bremerhaven erklärte, die deutschen Soldaten sollten sich in China Respekt verschaffen wie weiland die Hunnen unter ihrem König Etzel. Auch das war eine Kontinuitätslinie, in der 1914 keine Zäsur bedeutete.

Man kann die Bezeichnung der Deutschen als Barbaren auf deren Einmarsch in das neutrale Belgien und die Übergriffe deutschen Militärs auf die belgische Zivilbevölkerung zurückführen - für Letzteres stand die Formel von der «Vergewaltigung Belgiens». Man kann aber auch vermuten, dass die «westlichen» Intellektuellen den Deutschen das Barbarische vor allem deswegen zuschrieben, weil ihre eigenen Länder, Frankreich und Grossbritannien, mit dem zaristischen Russland verbündet waren, das in der Vorstellungswelt der Westeuropäer eigentlich der klassische Ort des Barbarischen war. Ein gutes Jahrzehnt zuvor wäre ein solches Bündnis noch undenkbar gewesen, als die liberalen, demokratischen und revolutionären Traditionen des Westens als politische wie kulturelle Antithese zu den repressiven und autoritären Strukturen Ost- und Mitteleuropas mit dem russischen Zarentum als deren Verkörperung galten. Durch die Identifikation der Deutschen als Barbaren wurde eine Kontinuität imaginiert, die einen tiefen bündnispolitischen Bruch verdecken sollte.

Warnende Stimmen

Von den konkurrierenden Selbstdeutungen der europäischen Intellektuellen einmal abgesehen - in welcher Hinsicht war das Jahr 1914 wirklich eine weltgeschichtliche Zäsur? Immerhin hatte eine Reihe kluger Beobachter schon lange vor Kriegsausbruch gemutmasst, dass ein grosser Krieg in Europa nicht nur die politischen Verhältnisse des Kontinents umstürzen, sondern auch dessen gesellschaftliche Ordnung und kulturelles Selbstverständnis von Grund auf verändern werde: Kleinere Kriege, die lokal und zeitlich begrenzt blieben, wie im Fall der italienischen und deutschen Einigungskriege, könne Europa verkraften, aber nicht einen grossen Krieg, der den gesamten Kontinent erfasse und sich über viele Jahre hinziehe.

Vor einem solchen Krieg hatten nicht nur Friedrich Engels und August Bebel aufseiten der Sozialisten gewarnt, sondern auch der polnische Bankier Johann Bloch und der englische Journalist Ralph Angell aus einer ökonomisch-liberalen Perspektive sowie Helmuth von Moltke d. Ä., der Sieger von Königgrätz und Sedan, als die überragende Autorität in militärischen Fragen. Dementsprechend hatten sich die Generalstäbe aller Seiten darum bemüht, ihre Pläne auf einen kurzen Krieg mit schnellen Entscheidungsschlachten auszurichten. Als im Herbst 1914 diese Pläne gescheitert waren, war den scharfsichtigeren unter den Akteuren und Beobachtern klar, dass dieser Krieg Europa grundstürzend verändern würde. Intuitiv lagen die deutschen Intellektuellen mit der Annahme einer Zäsur also richtiger als die englischen und französischen Autoren, die eher von einer Kontinuität der geschichtlichen Verläufe sprachen.

Politischer Mehrwert?

Man kann Krieg als eine Form forcierten Ressourcenverbrauchs definieren, bei dem keine wirtschaftlichen Werte geschaffen werden, sondern auf einen politischen Mehrwert gehofft wird, den man später einkassieren will. Mit der Industrialisierung des Krieges ist dieser Ressourcenverbrauch noch einmal gesteigert worden, und das heisst, dass immer mehr an öffentlichem und privatem Vermögen durch den Krieg aufgezehrt wurde. 1914 und die ihm folgenden vier Kriegsjahre wurden zur politischen Tragödie des europäischen Bürgertums, das den Krieg als Chance zur Erlangung politischer Hegemonie gesehen und sich bei dem Versuch, diese Chance wahrzunehmen, wirtschaftlich ruiniert hat. Vor allem aber hat dieses Bürgertum seinen politischen Kompass verloren, und statt die gesellschaftliche und politische Mitte zu besetzen, hat es sich politisch nach rechts bewegt. Damit hat es eine Polarisierung in Gang gesetzt, der in vielen europäischen Ländern während der 1920er und 1930er Jahre nicht nur die Demokratie, sondern auch der Rechtsstaat zum Opfer gefallen ist. Aber diese Zäsur war reversibel, insofern es den Europäern nach etlichen Jahrzehnten gelungen ist, die politischen Optionen wieder zu eröffnen, die 1914 verschlossen oder verschüttet worden waren.

Die Zäsur von 1914 war das Ergebnis politischer Entscheidungen, bei deren Zustandekommen fast immer der Zufall seine Hand im Spiel hatte. Alles hätte, wenn das eine oder andere Ereignis nicht stattgefunden hätte, auch ganz anders kommen können. Kann man einer Ereigniskette, bei deren Zustandekommen der Zufall eine solche Rolle gespielt hat, tatsächlich den Charakter einer weltgeschichtlichen Zäsur zusprechen? Tatsächlich endet 1914 aber auch eine Ära des Fortschrittsoptimismus, die unter anderem darin ihren Ausdruck gefunden hatte, dass sie den Krieg als eine immer bedeutungsloser werdende Form von Konfliktregelung und Ressourcenverteilung ansah. Die Gewalt, so die vorherrschende Erwartung, würde immer mehr durch Arbeit abgelöst werden. Diese Vorstellung ist 1914 folgenreich zerstört worden, und es hat ein knappes Jahrhundert gedauert, bis die Europäer wieder an dem Punkt angekommen sind, an dem sie sich vor 1914 schon einmal befunden haben. 1914 war eine tiefe Zäsur - aber eine mit Chancen zur Reversibilität.

Prof. Dr. Herfried Münkler lehrt Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kürzlich ist sein Werk «Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918» (bei Rowohlt, Berlin) erschienen.


Nota.

Der Historiker nimmt zum Gegenstand seiner Wissenschaft das, was passiert ist. Das hat die Bedingungen geschaffen, von denen die Nachgeborenen wohl oder übel ausgehen. 

Es hat aber auch Möglichkeiten verworfen, die es vorher noch gab. Insofern ist auch das, was nicht geschah, was ausgeblieben ist, Gegenstand historischer Betrachtung, allerdings einer politischen, 'pragmatischen' eher als einer historistischen.

Mit andern Worten: Stelle ich die Frage, ob es eine Epoche der Weltrevolution gab - und warum sie dann doch ausgeblieben ist -, dann ist es egal, ob ich die Zäsur 1914 oder 1917 ansetze; der Weltkrieg selbst war die Zäsur. Viel interessanter ist der zweite Teil der Frage. Warum hat sie dann doch nicht stattgefunden? Und, was das Heikelste, aber vielleicht auch Überflüssigste daran ist: Wann und wo ist der Würfel gefallen?
JE 

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