Montag, 24. März 2014

Indien oder China.

aus NZZ, 24. 3. 2014

Ein neues Zünglein an der Waage?
Indiens Bürger haben genug von den Altparteien - eine spannende Parlamentswahl könnte bevorstehen

von Urs Schoettli 

Vom 7. April bis zum 12. Mai finden in Indien Parlamentswahlen statt. Im Vorlauf wirbelte eine aus Bürgerbewegungen hervorgegangene neue Kraft die Parteienlandschaft gründlich durcheinander. 

Im Westen wird der Wiederaufstieg Asiens, insbesondere Indiens und Chinas, im Wesentlichen als ein ökonomisches Phänomen gesehen. Man ist auf die Kaufkraft der rasant wachsenden Mittelschichten fokussiert, und längst nicht überall wird der Tatsache Rechnung getragen, dass diese historisch einmaligen Entwicklungen auch weitreichende soziale und politische Konsequenzen haben werden. Letztlich werden es nicht Wirtschaftsführer, sondern die politischen Eliten und Entscheidungsinstanzen sein, welche den Ausschlag geben werden, ob das asiatische Jahrhundert im Erfolg oder im Desaster enden wird. 

Schwierige Risikobewertung 

Alljährlich veröffentlichen verschiedene Think-Tanks und kommerzielle Institutionen wie die Economist-Intelligence-Unit Weltkarten, auf denen für jedes Land der Grad an zu erwartender sozialer und politischer Stabilität vermerkt ist. Während in früheren Jahren ganz Westeuropa mit geringen Risikowerten bedacht wurde, werden diesmal Spanien und Portugal als hohe Risiken eingestuft, derweil Griechenland gar in die Kategorie «sehr hohes Risiko» auf gleicher Stufe wie Ägypten und Argentinien eingereiht wird. Während die Volksrepublik China ebenfalls ein Hochrisikoland ist, werden für Indien geringere Risiken für soziale Unrast ausgemacht. Japan zählt zusammen mit der Schweiz und Österreich zum exklusiven Klub der sechs Länder mit sehr geringem Risiko.

Offensichtlich sind Rankings jeglicher Art ein riskantes Unterfangen, da sie nie der Komplexität der Wirklichkeit Rechnung tragen können. Dies gilt ganz besonders bei der Beurteilung von Staaten, bei denen die historischen, kulturellen, geografischen, klimatischen und sozioökonomischen wie auch politischen Rahmenbedingungen höchst unterschiedlich sein können. Immerhin gibt es im Falle der beiden aufstrebenden asiatischen Giganten Indien und China etliche Gemeinsamkeiten. Wir denken dabei an die Milliardenbevölkerung und die geografische Ausdehnung ebenso wie an die jüngere Geschichte mit der Erniedrigung durch fremde Mächte oder an die in den letzten drei Jahrzehnten erfolgte machtvolle Rückkehr in die Weltwirtschaft und auf die Weltbühne.

Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, die Frage zu stellen, weshalb die Volksrepublik ein erheblich höheres Risiko an sozialer Unrast zu verzeichnen hat als Indien, obschon die Indische Union in religiöser, kultureller und sprachlicher Hinsicht ein unvergleichlich viel komplexeres und vielfältigeres Staatsgebilde ist als China. Die Antwort liegt in der grundlegend verschiedenen Natur des politischen Systems in den beiden Ländern. Eine sachgerechte politische Risikoanalyse im Falle Indiens verläuft ähnlich wie beispielsweise in Kanada oder Frankreich. Im Wesentlichen drehen sich die Abwägungen darum, wer bei den nächsten Wahlen gewinnt und ob eher marktwirtschaftlich orientierte Kräfte die Regierung stellen werden oder ob das Pendel in Richtung Sozialdemokratie ausschlägt. Demgegenüber muss bei der Volksrepublik China in einer politischen Risikoanalyse stets auch das Szenario eines Systemkollapses mit unkontrollierbar gewordenen sozialen Verwerfungen eingeschlossen werden.

Es sind nicht böswillige ausländische Beobachter, die eine solche Extremsituation in ihre Erwägungen einbeziehen. Die chinesische Führung selbst hat bei verschiedenen Gelegenheiten vor der Gefahr eines Systemkollapses gewarnt. So gibt es wiederholte Mahnungen, dass, sollte das Krebsübel der Korruption nicht beseitigt werden, letztlich die Herrschaft der KPC bedroht sei. Auch eine ausufernde Inflation, die mittelständische Haushalte schwer in Mitleidenschaft zieht und mühselig erarbeitete Sparvermögen erodiert, gefährdet die politische Stabilität. Schon heute verzeichnen die Sicherheitsbehörden gemäss offiziellen Angaben Zehntausende von Revolten. Dass diese noch keine Gefahr für das System sind, liegt daran, dass es sich dabei um ein Aufbegehren von einfachen Bürgern gegen lokale Missstände handelt. Ganz anders würde es aussehen, wenn landesweite Probleme für Unrast sorgen würden. Dynastiewechsel sind bekanntlich in der chinesischen Geschichte keine Seltenheit.

In mancher Hinsicht hat Indien ähnliche Probleme wie China; Korruption, wachsendes Reichtumsgefälle und Inflation, die vor allem dem kleinen Mann schaden. In China hat die vierte Führungsgeneration von Hu Jintao und Wen Jiabao bei der Meisterung dieser Herausforderungen grösstenteils versagt. In Indien ist die Regierung von Ministerpräsident Manmohan Singh völlig diskreditiert. Weitherum hat sich die Meinung festgesetzt, dass insbesondere die zweite Regierung Singh von 2009 bis heute die korrupteste Administration seit Erlangung der Unabhängigkeit gewesen sei. Eigentlich müsste Indien nach verlorenen Jahren, da sich viele Politiker schamlos bereicherten und eine entscheidungsschwache Regierung die Wirtschaft an die Wand fuhr, reif für einen Regierungssturz sein.

Tatkraft und Fatalismus

Natürlich lassen sich kulturell-religiöse Argumente einbringen, weshalb Indien nicht den Weg einer auch gewaltsamen Auflehnung gegen weitverbreitete Armut, sträfliche Inkompetenz der Verwaltung und fortdauernden Feudalismus gewählt hat. Während China die revolutionäre Lehre vom Mandat des Himmels kennt, herrscht in Indien weitverbreiteter Fatalismus. Der bedeutende konfuzianische Philosoph Mencius (370 bis 290 v. Chr.) hatte für den Tyrannenmord plädiert, sofern der Kaiser seinen Verpflichtungen, für das Wohl des Volkes zu sorgen, nicht nachkommt. Demgegenüber ergaben sich die Inder seit dem siebten vorchristlichen Jahrhundert Karma und Samsara, der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Während aus dem Konfuzianismus die Innerweltlichkeit und der Pragmatismus der chinesischen Zivilisation erwuchsen, vertiefte sich im indischen Kosmos das Wissen um die Vergeblichkeit allen diesseitigen Strebens und Begehrens.

Dem Auftauchen der Europäer in Asien haftete nichts im Voraus Geplantes an. Welche europäische Macht wo Einfluss gewann, war weitgehend dem Zufall und gelegentlich, wie bei den Schlachten bei Plassey in Bengalen (1757) und beim südindischen Seringapatam (1799), dem Glück zuzuschreiben. Doch letztlich führte die Eroberung Indiens durch die Engländer zu einer glücklichen Fügung. Natürlich waren die Briten, zunächst als East India Company und danach als British Raj, nicht als Wohltäter in Indien. Die prachtvollen Country Estates der englischen und schottischen Nobilität zeugen noch heute von der Plünderung des indischen Reichtums. Aber anders als die den Briten vorangehenden fremden Herrscher über Indien, die Mogul-Dynastie, hinterliess der British Raj nach seinem widerwilligen Abzug aus Indien auch eine positive Erbschaft. Wir denken dabei an die Sprache und das Bildungssystem ebenso wie an die Rechtsprechung und die parlamentarische Demokratie.

Heute, bald sieben Jahrzehnte nach dem «Stelldichein mit dem Schicksal», wie Nehru die Unabhängigkeit am 15. August 1947 bezeichnete, besteht einmal mehr Grund dazu, mit Stolz und Zuversicht auf die Stärke der Demokratie in Indien zu blicken. Der Sündenfall Indira Gandhis, die Indien vom Juni 1975 bis März 1977 den Ausnahmezustand auferlegt hatte, war ein heilsamer Schock für das Land gewesen. Seither ist die Frage, wie solide die parlamentarische Demokratie in Indien verankert sei, schlicht kein Thema mehr. Die Fortentwicklung der politischen Institutionen ist danach in mehreren Schritten erfolgt. Zunächst kam der Schock, dass die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangene Kongresspartei ihren Status als natürliche Regierungspartei verlor. Danach gewannen in mehreren Gliedstaaten Regionalparteien an Gewicht, deren Anspruch darauf ausgerichtet ist, spezifisch regionale Interessen zu verfechten. Dies hat zu einer weiteren Zersplitterung der Parteienlandschaft geführt. Obschon das dem britischen Vorbild folgende Majorzprinzip der Einerwahlkreise eigentlich darauf ausgeht, klare Mehrheiten zu beschaffen, ist inzwischen in Delhi die Koalitionsregierung zur Norm geworden.

In den bewegten Wochen und Monaten der Vorwahlzeit vollzog sich in Indien ein weiterer systempolitisch wichtiger Quantensprung. Alles begann vor drei Jahren, als im Zusammenhang mit der Durchführung der Commonwealth-Spiele in Delhi der Moloch einer geradezu endemischen Korruption zutage trat. Doch nicht nur bereicherten sich Politiker und Beamte schamlos; die Spiele, die eigentlich in Analogie zur Pekinger Olympiade der Welt das neue, aufstrebende und erfolgreiche Indien hätten zeigen sollen, verkamen wegen totaler Inkompetenz der Behörden zu einem Fiasko. Delhi stellte sich vor aller Welt als zweitrangige Drittweltkapitale bloss. Als dann in zahlreichen Fernsehkanälen, die einen aggressiven investigativen Journalismus pflegen, die noch und noch bei Korruption und Unfähigkeit ertappten Politiker mit der üblichen Überheblichkeit der Mächtigen auftraten, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Die Kombination von Bestechlichkeit, Unfähigkeit und Arroganz brachte das Blut des neuen städtischen Mittelstands in Wallung.

Wer in Indien und China mit der Obrigkeit zu tun hat, kann die grossen Unterschiede punkto Effizienz nicht übersehen. Obschon China ein autoritäres System hat, gehen Regierung und Verwaltung viel speditiver auf die Anliegen der Menschen ein als im demokratischen Indien. Dort findet sich der Bürger, auch wenn er seine Politiker abwählen kann, stets in der Rolle eines Bittstellers. Die feudalistische Mentalität der Bürokraten und Politiker unterscheidet sich kaum von der Attitüde der britischen Kolonialherren.

In Tat und Wahrheit hat der «British Raj» mentalitätsmässig den Abzug der «burrah sahibs» überdauert. Die meisten indischen Politiker, insbesondere jene der Kongresspartei, geben sich gerne als Sozialisten aus und nutzen dementsprechend die Staatshörigkeit zur Wahrung ihrer feudalistischen Pfründen aus, deren sie sich mit beispielloser Arroganz und Skrupellosigkeit bedienen. Dies alles spielte keine Rolle, solange die indischen Mittelschichten schwach und politisch impotent waren. Eine Bürgerbewegung und seit kurzem eine politische Partei, die Aam Aadmi Party (Partei des einfachen Mannes) haben sich aufgemacht, dies zu ändern. Im Dezember eroberte Arvind Kejriwal, der Chef der erst 2012 gegründeten Aam Aadmi Party (AAP), den Posten des Chefministers in der Hauptstadtregion Delhi.

Auch wenn Kejriwal sich unlängst wegen mangelnder Unterstützung zu einem frühen Rücktritt genötigt sah, war dieser Erfolg in der Höhle des Löwen doch ein emblematischer Sieg des kleinen Mannes über die Mächtigen. Bei den anstehenden Gesamterneuerungswahlen zum indischen Unterhaus, der Lok Sabha, versucht die völlig diskreditierte Kongresspartei, mit einem weiteren Sprössling der Nehru-Gandhi-Dynastie, Rahul Gandhi, sich an den Fleischtöpfen der Macht zu halten. Die zweitwichtigste nationale Partei, die Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei), strebt mit Narendra Modi, dem umstrittenen, aber umtriebigen Chefminister des westindischen Gliedstaats Gujarat, an die Macht in Delhi.

In einem direkten Kräftemessen hätte der blasse, politisch unerfahrene und als Wahlkämpfer wiederholt erfolglose Rahul Gandhi keine Chance. Viele rechnen damit, dass für Modi, der auch in der indischen Unternehmerschaft grosse Sympathien geniesst, der Weg nach Delhi geebnet ist. Wieweit es der Aam Aadmi Party gelingen wird, derartige Kalkulationen durcheinanderzubringen, wird sich weisen müssen. Auch wenn kaum zu erwarten ist, dass sie in der kurzen Zeit ihres Bestehens im ganzen riesigen Indien die nötigen Wählerstimmen hinter sich versammeln kann, um im nationalen Parlament eine wichtige Rolle wahrzunehmen, könnte sie doch als Spielverderberin so manche parteipolitische Kalkulation zunichtemachen.

Veränderter Diskurs

Noch ist es zu früh, verlässliche Prognosen anzustellen, was bei den Unterhauswahlen geschehen wird. Dessen ungeachtet steht schon heute fest, dass die AAP den Diskurs und in mancher Hinsicht das Auftreten der Altparteien zu ändern begonnen hat. Sowohl die Kongresspartei als auch die Bharatiya-Janata-Partei sehen sich mit der geballten Wut von immer zahlreicheren indischen Wählern konfrontiert, die es bisher mit Resignation und Apathie hingenommen hatten, von einer Kaste regiert zu werden, die Bestechlichkeit, Machtmissbrauch und gar Kriminalität als Norm, Ehrbarkeit, Pflichtbewusstsein und Verantwortlichkeit hingegen als längst abgehakte Tugenden aus der Zeit Mahatma Gandhis betrachtet. In den meisten Ländern wäre der Aufruf an die Bürger, mit der Kamera im Mobiltelefon Jagd auf korrupte Beamte und Politiker zu machen, ein subversiver Akt. In Indien markierte er den Auftakt zu einer Wahlkampagne, deren Ausgang allerhand Überraschungen und Umwälzungen mit sich bringen könnte.

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