Samstag, 26. April 2014

Eine Biographie Max Webers.

aus nzz.ch, 18. April 2014, 05:30

Ein «Galilei der Geisteswissenschaften»
Max Weber, der als einer der Begründer der Soziologie gelten darf, wurde vor einhundertfünfzig Jahren im thüringischen Erfurt geboren. Dirk Kaeslers voluminöse Biografie zeichnet ihn als «Preussen», «Denker» und – als «Muttersohn».

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Der hundertfünfzigste Geburtstag von Max Weber beschert uns gleich zwei neue Biografien dieser intellektuellen Jahrhundertgestalt. Jürgen Kaube bringt in seinem Buch «Ein Leben zwischen den Epochen» – einer gelungenen «intellectual biography» – den Bürger und Gelehrten Max Weber konzentriert auf den Punkt (NZZ 29. 1. 14). Dirk Kaesler liefert nun das krasse Gegenstück, an Länge und im Stil. So ausladend – von den Gerüchen der Stadt Erfurt zur Zeit von Webers Geburt dort am 21. April 1864 bis zu den verschiedenen Wohnstätten der Geliebten Else Jaffé in Webers letzten Münchner Jahren – ist das Leben des Gelehrten noch nie dargestellt worden. Alles ist zusammengeführt, was der emeritierte Marburger Soziologe Dirk Kaesler, ein ausgewiesener Kenner der soziologischen Klassiker, in seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Weber angesammelt hat.

Tausend Seiten – ohne Nachweise

Wer diese tausendseitige Biografie aufschlägt, sollte mit dem Kleingedruckten im Anhang beginnen. Aus stilistischen Gründen, steht dort, wurde für diese Lebensschilderung darauf verzichtet, die Fundorte der Zitate nachzuweisen. Den wissenschaftlichen Wert des Werkes schmälert das gewaltig. Denn kaum zu prüfen ist, was aus primären Quellen geschöpft und was aus zweiter oder dritter Hand übernommen wurde. Die Leser müssten, nicht anders als bei einem Plagiatsverdacht, Software einsetzen, um die exakten Nachweise zu finden. Ist das die Lektüre der Zukunft?

Lesenswert ist Kaeslers Opus magnum als roman vrai. Zwei Souffleure bereiten ihm eingangs die Bühne für eine grosse Erzählung: Goethe und Dostojewski. Letztgenannter, weil er lehre, wie man einen Menschen zu sehen habe. Wie Dostojewskis Romanfiguren sei auch Weber «ein seltsamer Mensch, ein Sonderling, ein Einzelner» gewesen.

Ausführlich referiert Kaesler alle Schriften, die Weber zu anhaltender Weltgeltung verholfen haben. In manchem setzt er anregende Akzente. Webers Interesse an der besonderen protestantischen Arbeitsethik verfolgt er zurück bis zu dessen Reise ins spanische Baskenland von 1897, dort habe der Soziologe die jesuitisch-kapitalistische Moral der Basken studiert. Einen Vortrag Webers während des Ersten Weltkriegs in Wien vor k. u. k. Offizieren über Sozialismus rückt er mit Recht als eine «fulminante» Analyse politischer Herrschaft wieder ins Bewusstsein.

Nur den berühmten «Objektivitätsaufsatz», mit dem Weber den Historismus überwand und in dem er lehrte, allein unter explizit ausgewiesenen Gesichtspunkten sei kulturwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt möglich – dieses Bekenntnis zum radikalen Perspektivismus mag Kaesler offenbar nicht. Denn er verzichtet in seiner «Erzählung», wie er seine Biografie immer wieder bezeichnet, demonstrativ auf eine ausdrückliche Fragestellung. Immerhin lassen sich thematische Fokussierungen dem Titel seines Werkes entnehmen: «Max Weber. Preusse, Denker, Muttersohn».

Weber, der Preusse, gar der «ewige» Preusse? Das muss man vom Kopf auf die Füsse stellen. In Webers Werteskala steht die «Nation» über den Einzelstaaten. Nationale Interessen gehen dem «animal politicum» in ihm über alles. Auf Preussen ist er deshalb negativ fixiert. «Was war Bismarcks politisches Erbe?», fragt er im Weltkrieg. Die Antwort: «Er hinterliess eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte.» Im Krisenjahr 1917 fordert Weber dezidiert eine Beseitigung der grosspreussischen Hegemonie des Deutschen Kaiserreiches.

Eine Koautorin

Weber, der Denker? Zweifellos. Mit seinen Forschungen zur religiösen Prägung ökonomischen Verhaltens oder zu den sozialen Bedingungen politischer Herrschaft wirkt er in alle Bereiche der modernen Kultur hinein. Kaesler verweist auf Karl Jaspers, der Weber einen «Galilei der Geisteswissenschaften» nannte, und zählt den Soziologen ausserdem zu den «wirkungsvollsten politischen Denkern des 20. Jahrhunderts». Man muss nur sehen, wie regelmässig Weber als Journalist zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften mit geschliffenen Artikeln beliefert hat. In der Revolution von 1918 wechselt er sogar für einige Wochen als Berater in die Redaktion der «Frankfurter Zeitung». Dort publiziert er auch seine wichtigsten Beiträge zur demokratischen Neuordnung Deutschlands.

Weber, der Muttersohn? Das zielt auf den privaten Teil der Biografie, und Kaesler setzt damit Helene Weber, geborene Fallenstein, ein Denkmal. Für diese private Seite hat sich Kaesler eine Koautorin gewählt. In grossen Blöcken und das ganze Buch hindurch zitiert er Marianne Webers «Lebensbild» ihres Gatten von 1926. Weitgehend verlässt der Autor sich auf diese Darstellung, sei es mit Blick auf Max Webers folgenreiche Krankheit, sei es in Sachen intellektueller «Salon», den die Webers führten und der den «Mythos von Heidelberg» befestigt hat. In zwei entscheidenden Punkten widerspricht Kaesler Marianne Weber. Wo sie verklärt und heroisiert, will er entzaubern und Max Webers «angeborene Ängstlichkeit und seine Scheu vor emotionaler Abhängigkeit» betonen. Und von den Frauen, die Max Weber schützend umgaben, hält er nicht Marianne Weber, erst recht nicht Else Jaffé, sondern Mutter Helene für die bedeutendste – eben deshalb nennt er ihn «Muttersohn», manchmal «Muttersöhnchen». Unter einem Gesichtspunkt, den Kaesler gar nicht einmal stark herausstreicht, ist das treffend: Die Mutter hatte das Geld. Sie stammte aus vermögendem hugenottischem Wirtschaftsbürgertum und trug wesentlich dazu bei, ihrem Erstgeborenen nach dessen Erkrankung eine sorgenfreie Existenz als Privatgelehrter zu sichern.

Ein «Rechner»

Für Max Weber machte es den Grundzug des modernen Kulturmenschen aus, alles «durch Berechnung beherrschen» zu wollen. Auch persönlich war er ein «Rechner». So hiess das Amt des Schatzmeisters, das er sich im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ausgesucht hatte. Er hatte diese wegweisende Gesellschaft für die akademische Etablierung der Soziologie 1909 mitbegründet, verliess sie aber schon nach kurzer Zeit im Zorn darüber, dass die Kollegen seinen Idealen einer «deutend verstehenden und ursächlich erklärenden» Wissenschaft nicht folgen wollten. Und privat wachte Max Weber als Rechner über das Familienvermögen. Der Mutter konnte er anhaltende Vorwürfe machen, die ständische Lebensführung des jüngeren Bruders Arthur als Offizier in der Reichshauptstadt Berlin zu grosszügig zu unterstützen und zu viel Geld für soziale Zwecke zu spenden. Regelmässige Zuwendungen der Mutter hatte Max Weber für seine eigene Privatgelehrtenexistenz nicht anders einkalkuliert als die Erbschaft der Familie seiner Frau.

Erst am Ende des Weltkrieges, als die patriotisch gezeichneten Kriegsanleihen das gesamte Familienvermögen stark dezimiert hatten, musste Weber zurück an die Universität und wählte München. Hier starb er am 14. Juni 1920 an einer Lungenentzündung, ein spätes Opfer der Spanischen Grippe, die nach dem Krieg in ganz Europa wütete. Die Mutter Helene war am 14. Oktober 1919 in Charlottenburg gestorben, und der Biograf stellt am Ende seiner Erzählung keinen ursächlichen, eher einen mystischen Zusammenhang her: «Es dürfte kein Zufall sein, dass Max Weber gerade mal fünf Monate nach dem Tod seiner Mutter stirbt.»

Worin liegt nun aber Max Webers anhaltende Relevanz? Ein Versuch in drei Sätzen: Weber ist ein universalhistorischer Problemdenker, aber stets ausgerichtet auf die Gegenwart, auf das «So-und-nicht-anders-geworden-Sein» der heutigen Kultur. Unübertroffen ist sein Denkstil, seine Scharfsichtigkeit, mit der er schonungslos über die grossen Konflikte der «uns umgebenden Wirklichkeit» aufklärt, vor allem über die Widersprüche zwischen demokratischem Staat und kapitalistischem Markt. Was Max Weber ein Leben lang antreibt, ist – in seinen eigenen Worten – der unbedingte Wille, «Klarheit» zu gewinnen über die Realitäten des Lebens und der Zeit «in ihr ernstes Antlitz» zu blicken.

Dirk Kaesler: Max Weber. Preusse, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. C. H. Beck, München 2014. 1007 S., Fr. 54.90.

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