Freitag, 11. April 2014

Kindergräber am Strand - der Mythos der hellenischen Kolonisation..

aus Der Standard, Wien, 26. 2. 2014                                                                                                        Chalkidike, Strand

Bruchstücke einer frühen Wanderung
Archäologen fanden Spuren frühgriechischer Siedlungen an entfernten Mittelmeerküsten und am Schwarzen Meer - Nun stellen sie die Frage nach der Motivation der Zuwanderer

von Kurt de Swaaf

Der Brauch lässt Wissenschafter noch immer rätseln: Im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung begruben die Bewohner der Stadt Mende auf der griechischen Halbinsel Chalkidike ihre verstorbenen Kinder in großen Tongefäßen am Strand.

Die Sitte hatte wahrscheinlich einen praktischen Hintergrund, sagt der Archäologe Stefanos Gimatzidis. Der Friedhof sollte der Landwirtschaft keinen Platz wegnehmen. "Man hat eine Fläche benutzt, die nicht kultivierbar ist." Eine solche Praxis war nicht unüblich, sagt Gimatzidis, der als Forscher am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien tätig ist. Auch andere Kulturen haben ihre Toten auf quasi wertlosem Land beigesetzt.

Seltsam ist allerdings, dass von den Erwachsenen in Mende jede Spur fehlt. Keine Gräber, keine Nekropolen, und es gibt auch keine Hinweise auf Feuerbestattungen. Hat man die Toten einfach dem Meer übergeben?

Ähnliche Kinderfriedhöfe wie jene von Mende wurden auch an anderen Stellen auf Chalkidike und an der Küste der Insel Euböa ausgegraben, auf der die Stadt Eretria ein frühes Zentrum war. Die Riten waren offensichtlich weitverbreitet. Vielen Forschern gilt dies als ein weiterer Beleg für den sogenannten Apoikismos, die griechische Kolonisation des mediterranen Raumes.

Demnach hatten sich regelmäßig Siedler aus dem südlicheren Teil Griechenlands per Schiff aufgemacht, um sich in neuen Gefilden niederzulassen. So soll eine Vielzahl neuer Städte gegründet worden sein, mithin eine gezielte Auswanderungsbewegung, welche die griechische Kultur auch an weit entfernte Mittelmeerküsten trug und in die Regionen am Schwarzen Meer vorgelegen sein.

Eingeritzte Inschriften

Die Eretrier von Euböa scheint es vielfach nach Makedonien am Thermaischen Golf gezogen zu haben, dorthin, wo auch Mende lag. In den Städten Methone an der Westküste der Bucht und Sindos am Rande der heutigen Metropole Thessaloniki lebten offenbar ebenfalls Eretrier - neben den einheimischen Thrakern. Hier brachten archäologische Grabungen Überreste von Keramik zutage, die deutlich ägäisch geprägt ist. Auf Gefäßscherben aus Methone sind sogar Inschriften im euböischen Alphabet eingeritzt worden. Ein klarer Hinweis, wie Stefanos Gimatzidis erläutert: "Jede Region hatte ihr eigenes Alphabet."

Da es sich bei den Inschriften auf den Trinkbechern vorwiegend um die Namen ihrer Besitzer handelt, dürften Letztere ursprünglich auf Euböa beheimatet gewesen sein. Sonst hätten sie diese Schriftform wohl kaum an ihrem neuen Wohnort benutzt. Dass es sich bei den obenerwähnten Städten allerdings um rein euböische Niederlassungen handelt, kann angezweifelt werden.

Mende wurde zwar vom antiken Historiker Thukydides als eretrische Kolonie erwähnt, aber das bedeutet nicht, dass die Stadt erst im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als eine solche gegründet wurde, betont Stefanos Gimatzidis im Gespräch mit dem Standard. Stattdessen dürften sich Seeleute aus dem Süden nach und nach in der bereits bestehenden Siedlung niedergelassen haben. Von einer organisierten Kolonisation konnte wohl keine Rede sein. Die Menschen, meint Gimatzidis, zogen damals auf eigene Faust hinaus und suchten ihr Glück. Zuwanderung ist eben kein neues Phänomen - es gab sie auch schon lange vor der EU und ihrer Freizügigkeitsregelung.

Die archäologischen Daten könnten Gimatzidis' These bestätigen. Ein Teil der Siedlungsüberreste ist älter als 2800 Jahre. Die Orte müssen also schon vor Beginn der Kolonisationsbewegung, welche der gängigen Lehrmeinung nach mit der Gründung von Syracusa auf Sizilien im Jahr 733 vor unserer Zeitrechnung startete, bewohnt gewesen sein.

Lokale Keramik

Der Großteil der in Sindos und Mende ausgegrabenen Keramik entstammt außerdem lokaler Produktion, und anhand dieser Fundstücke lässt sich ein auffälliger Veränderungsprozess beobachten. Ab Mitte des achten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung wurde der Anteil an handgeformten Krügen und Behältern im traditionellen Stil des Balkans stetig geringer. Stattdessen kam immer mehr auf Töpferscheiben hergestellte Ware in Gebrauch.

Diese Technologie hatten die Handwerker vermutlich von Kollegen aus dem Süden erlernt. Interessanterweise entstanden auch Mischprodukte - robuste handgemachte Gefäßkörper mit Hälsen, die auf Scheiben geformt wurden. "Dabei sieht man klar, wie sich die zwei Welten treffen und etwas Neues entsteht", sagt Stefanos Gimatzidis.

Wie der kulturelle Austausch und die Wanderbewegungen zwischen der Südhälfte Griechenlands und anderen Regionen tatsächlich abgelaufen ist, könnte bald verstärkt Gegenstand wissenschaftlicher Debatten werden. Gimatzidis geht den offenen Fragen zusammen mit einem interdisziplinären Expertenteam auf den Grund. "Wir müssen die Definition der Kolonisation neu bestimmen", sagt der Gelehrte.

Die Forscher setzen dafür vor allem auf moderne naturwissenschaftliche Methoden. Vergleichende metallurgische Analysen von Fundstücken aus verschiedenen Städten im heutigen Griechenland und Italien können Handelswege und eventuelle Rohstoffimporte aufzeigen, während archäobotanische Untersuchungen Auskunft über Landwirtschaft und die vorhandenen Naturressourcen geben sollen. Das Projekt wird vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert.

Für Stefanos Gimatzidis ist vor allem die Frage nach der Motivation der Migranten und der soziopolitischen Organisation in den Zielgebieten wichtig. Was suchten die Zuwanderer in Makedonien und Italien? "Sie kamen in Wachstumsregionen", sagt der Archäologe. "Im achten Jahrhundert vor Christus tauchen die ersten standardisierten Handelsgefäße in der Nordägäis auf." Solche Amphoren dienten dem Export, unter anderem von Wein.

Wer derartige Waren ausführt, hat einen Produktionsüberschuss, meint Gimatzidis, und das weise außerdem auf Wirtschaftswachstum hin. Der kulturelle und technologische Austausch dürfte auch die Urbanisierung angekurbelt haben, denn die Siedlungen wachsen in der darauffolgenden Zeit enorm.

Von einer ethnisch einheitlichen Bevölkerung konnte allerdings keine Rede sein. Das "Griechentum" entstand erst viel später. Eine aus politischen Motiven heraufbeschworene Identität, für die der Apoikismos als Gründungsmythos dient. 

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