Dienstag, 29. April 2014

Max Webers «Wirtschaft und Gesellschaft» neu ediert.

Spuren eines akribischen Geistes – Autorkorrekturen in der Druckfahne vom April 1920.
aus nzz.ch, 18. April 2014, 05:30

Das unvollendete Hauptwerk 
Es gilt als Max Webers Hauptwerk und ist jedenfalls einer der gewichtigsten Klassiker der Soziologie: «Wirtschaft und Gesellschaft». Die aufwendige Neuedition des kompilierten und postum erschienenen Buches liegt nun komplett vor.



Als 1786 nach jahrelanger Arbeit endlich der «Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs für die Preussischen Staaten» dem Alten Fritz vorgelegt wurde, lautete dessen lapidarer Kommentar: «Es ist aber sehr dicke.» Das darf mit Fug und Recht auch von der Neuausgabe der ersten vier Kapitel von Max Webers Beitrag zum «Grundriss der Sozialökonomik» gesagt werden, die seit 1922 den ersten Teil von «Wirtschaft und Gesellschaft» bildeten.

Was in den fünf Auflagen, die dieses Werk bis 1972 erlebt hat, 180 Seiten füllte, ist nun, dank dem leserfreundlicheren Druck sowie den Erläuterungen, Querverweisen und bibliografischen Angaben der Herausgeber, auf rund 450 Seiten angeschwollen. Dazu kommen 120 Seiten Korrekturfahnen der ersten Lieferung, die besonders zum zweiten Kapitel zahlreiche (allerdings nur mühselig zu erschliessende) Textvarianten bieten, sowie der für die Gesamtausgabe übliche aufwendige Apparat, so dass ein stattlicher Band von über 800 Seiten entstanden ist. Über den neuen Titelzusatz «Soziologie» wird mancher staunen, doch können sich die Herausgeber auf eine noch zu Webers Lebzeiten erschienene Verlagsankündigung berufen, die ebendiese Formulierung enthielt.

Ein neuer Text

Rechtzeitig zum hundertfünfzigsten Geburtstag seines Autors ist damit nach nunmehr fünfzehn Jahren die Neuedition von Webers Opus magnum abgeschlossen. Was von mehreren Generationen von Wissenschaftern und Studenten noch als einheitliches Werk rezipiert wurde, ist nun in sechs Bände aufgelöst, von denen die ersten fünf den vor 1914 entstandenen Nachlass Webers enthalten, während der soeben erschienene Band die einzigen in dem Sinne authentischen Texte versammelt, dass Weber selbst sie noch in den Druck gegeben und korrigiert hat. Im Unterschied zu allen früheren Ausgaben wird damit der Tatsache Rechnung getragen, dass Weber nach 1918 mit seinem Beitrag noch einmal ganz neu ansetzte, um seine Gedanken in wesentlich verknappter und lehrbuchartiger Form zu präsentieren: in Paragrafen gegliedert wie ein Gesetzbuch, mit hoch verdichteten Definitionen und kleingedruckten Erläuterungen, über deren Prägnanz nur staunen kann, wer einmal Ähnliches versucht hat.

Von einer Nachkriegs- oder Neufassung zu reden, ist freilich nur bedingt zutreffend. Zum einen lässt sich nicht genau sagen, wann Weber mit der Niederschrift begonnen hat. Belege für einen Beginn vor Sommer 1919 gibt es zwar nicht, doch ist ein früheres Datum auch nicht grundsätzlich auszuschliessen. Zum andern kann zumindest mit Blick auf das Kapitel «Soziologische Kategorien des Wirtschaftens» von einer Neufassung nicht gesprochen werden, findet sich doch in den Vorkriegsmanuskripten hierzu keine Vorlage. Tatsächlich hat man es mit einem ganz neuen Text zu tun, um den übrigens die bisherige Rezeption einen auffällig grossen Bogen gemacht hat.

Der Aspekt der Legitimität

Für die «Soziologischen Grundbegriffe» gibt es wohl einen Vorgänger, den Aufsatz «Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie» von 1913, doch ist dieser stärker entwicklungsgeschichtlich ausgerichtet und im Übrigen in einer Terminologie gehalten, deren Eigenwilligkeit und Umständlichkeit schon die Zeitgenossen befremdet hat. Beim dritten Kapitel – «Typen der Herrschaft» – konnte Weber aus dem Vollen schöpfen, gab es doch die Fülle der heute im Band «Herrschaft» zusammengestellten Texte, die aber verglichen mit der Neufassung deutlich heterogener sind. So kommt etwa der Gesichtspunkt der Legitimität nun viel besser zur Geltung, da er im alten Manuskript nur in einigen Kapiteln wie beispielsweise demjenigen über das Charisma konsequent Anwendung findet, im Bürokratie-Kapitel dagegen fehlt. Andererseits sucht man in der Neufassung vergeblich nach einer dem veränderten Reflexionsstand entsprechenden Reformulierung des Vorkriegsmanuskripts über «Staat und Hierokratie», das mit hundert Seiten zu den umfangreichsten Texten des Nachlassbandes zählt. Ob Weber sich dies für die ins Auge gefasste Religions- oder die ebenfalls geplante Staatssoziologie vorbehalten hat, wissen wir nicht; wie überhaupt die Frage, wie es nach den vier neuen Kapiteln weitergehen sollte, weitgehend unbeantwortbar ist.

Das vierte Kapitel über «Stände und Klassen» ist wesentlich differenzierter als das entsprechende Vorkriegsmanuskript. Dafür lässt es aber die handlungstheoretischen Unterscheidungen zwischen Massen-, Gemeinschafts- und Klassenhandeln in den Hintergrund treten, mit denen Weber seinerzeit auf die grundlegende Bedeutung der Erkennbarkeit von Bedingtheit und Wirkung der Klassenlage für ein Gemeinschaftshandeln der Klassenzugehörigen hingewiesen hatte, also für das, was Georg Lukács später als Klassenbewusstsein fasste. Problematisch an diesem Kapitel ist nicht nur sein unabgeschlossener Charakter, sondern auch seine Stellung im begrifflichen Aufbau, operiert doch bereits das vorausgehende Kapitel über «Typen der Herrschaft» mit Begriffen wie «ständischer Patrimonialismus», «ständische Gewaltenteilung» oder «Klassenparteien», so dass man sich fragt, warum Weber die Definition für Stand und Klasse nicht bereits in den «Soziologischen Grundbegriffen» gibt.

Ein «work in progress»

Der Eindruck, hier sei manches mit heisser Nadel gestrickt, ist nicht von der Hand zu weisen und wird im Übrigen auch durch den editorischen Bericht verstärkt, der ernüchternde Einblicke in den teilweise chaotischen Drucklegungsprozess dieser Texte gewährt. Welch ein Vertrauen muss der Verleger in seinen Autor gesetzt haben, dass er mit dem Druck eines Werkes begann, für das nicht einmal eine Gliederung vorlag, wenn man von dem veralteten Plan von 1914 absieht! Und was liess er ihm nicht alles durchgehen: ständige Terminverschiebungen, Vertröstungen, nachträgliche Erweiterungen des bereits gesetzten Textes, mehrere Korrektur- und Revisionsgänge usw.

Webers Soziologie, das zeigt die Neuausgabe von «Wirtschaft und Gesellschaft», ist ein «work in progress», das vermutlich noch manche Revisionen und Umbauten erlebt hätte, wenn seinem Verfasser mehr Zeit gegönnt gewesen wäre. Die vier Kapitel, die nun sein letztes Wort geblieben sind, bieten zahlreiche Fortschritte in Bezug auf begriffliche Verdichtung und Architektonik, vermögen aber viele der Einsichten nicht zu ersetzen, die in der Vorkriegsfassung zu finden sind. So mag es einem mit Blick auf «Wirtschaft und Gesellschaft» wie jenem geistreichen Franzosen gehen, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Wort prägte, er liebe Deutschland und freue sich deshalb, dass es gleich zwei davon gebe.

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920. Herausgegeben von Knut Borchardt, Edith Hanke und Wolfgang Schluchter. Max-Weber-Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 23, Ln., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 2014. 845 S., Fr. 525.–.


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