Dienstag, 6. Mai 2014

"Das Kapital im XXI. Jahrhundert"

aus nzz.ch, 6. Mai 2014, 05:30

Amerikas jüngster Bestseller
Der Piketty-Hype


Amerika hat einen neuen Superstar. Sein Name: Thomas Piketty, seine Profession: Wirtschaftswissenschafter, seine Nationalität: französisch. Der Grund – oder sagen wir: Anlass – für den kometenhaften Aufstieg des 42-Jährigen in sämtlichen Mediengefässen, von Twitter über die «New York Review of Books» bis in die Hochglanz-Gazetten und Fernsehshows, ist die englische Übersetzung seines 696 Seiten umfassenden Wälzers «Capital in the 21st Century», einer historisch fundierten und, laut den meisten Experten, revolutionären Grundlagenforschung über die rasant wachsende Ungleichheit in der Welt. In dem zusammen mit dem Kollegen Emmanuel Saez verfassten Werk, für das er Daten aus zwei Jahrhunderten und mehr als 30 Ländern ausgewertet hat, vertritt der an der Paris School of Economics lehrende Ökonom die These, dass – um es ganz schlicht zu sagen – die oberste Schicht der Superreichen immer mehr Kapital, Macht und Einfluss erlangt, während der Rest nur verliert.

Das im Februar in den USA erschienene Buch schoss innerhalb kürzester Zeit auf den ersten Platz der Bestsellerlisten. Nicht nur die Zeitschrift «The Economist» meinte, das Buch habe das Zeug, die ökonomischen Lehren der letzten zwei Jahrhunderte auf den Kopf zu stellen. Der Nobelpreisträger Paul Krugman kommt in der «New York Review of Books» zum Schluss, Pikettys «bahnbrechendes Meisterwerk» werde nicht nur die ökonomische Disziplin erschüttern, sondern «die Art und Weise, wie wir über Wohlstand und Armut denken, völlig neu ausrichten». Der «Esquire» rief das Buch schon zum «wichtigsten Buch des 21. Jahrhunderts» aus.

Piketty ist nicht der Erste, der mit dem Mantra aufräumt, der freie Markt werde sich zwangsläufig selbst regulieren, doch scheint er der Erste zu sein, der das wachsende Unbehagen am Status quo historisch umfassend zu belegen weiss. Ein Grund jedoch, weshalb das Buch in den USA mehr noch als in seinem Ursprungsland Frankreich wie eine Bombe einschlug, dürfte in dem Umstand begründet sein, dass Pikettys Diagnose einer neuen Belle Epoque oder besser Hedge-Fund-Oligarchie nirgends so zutrifft wie hier. Seit dem Ende der Finanzkrise sind die Kapitalgewinne extrem in die Höhe geschnellt, während die Löhne seit langem stagnieren. Das Ergebnis ist laut Piketty, dass 95 Prozent des Einkommenszuwachses zwischen 2010 und 2012 in die Taschen der 1 Prozent an der Spitze geflossen seien. Den grössten Anteil am Kuchen aber habe die Spitze der Spitze kassiert, die Spezies der «Supermanager». Hier sei der Grad der Ungleichheit in Amerika «höher als in jeder anderen Gesellschaft – und das seit Menschengedenken und überall auf der Welt».

Es war nicht von Schaden, dass Piketty seinen Befund in gut geschriebene Prosa fasst; wenn man sich in New York in der U-Bahn umschaut, könnte man glauben, ein neuer «Da Vinci Code» habe das Licht der Welt erblickt. Daher ist es vermutlich kein Zufall, dass der Piketty-Hype besonders in den Stil- und Fashion-Rubriken unter die Lupe genommen wird. «Er ist die jüngste Version einer mittlerweile bekannten Gattung: die intellektuelle Overnight-Sensation, deren Ruhm die Moden und Gefühle des Augenblicks reflektiert», schreibt Sam Tanenhaus in der «New York Times». Anders jedoch als etwa der Kult um Susan Sontag, die archetypische Vertreterin dieser Spezies, ist der Piketty-Boom ein Phänomen, das sich dem Multiplikationsfaktor des Internets zu verdanken hat.

Ein intellektueller Superstar wird freilich nicht durch eine treffende These allein geboren, er muss den Zeitgeist nicht nur einfangen, sondern verkörpern. Und da hat Piketty anscheinend die richtigen Eigenschaften und Looks. Wie der französische Star-Philosoph Bernard Henry Levy trägt er das Hemd weit offen, doch anders als BHL ist der jungenhaft attraktive Wirtschaftsguru sympathisch uneitel. Seine Botschaft trifft die Occupy-Wall-Street-Stimmung der Menge, sein Faible für Big Data passt in unsere statistikbesessene Zeit. Auch der Umstand, dass Piketty seine Ausführungen nicht allein Powerpoint-freundlich mit Grafiken, sondern auch mit Reverenzen an Balzac und Jane Austen gefüttert hat, macht diese für Nichtökonomen sehr attraktiv. Und trifft der aktivistische Grundzug des Manifests nicht einen Nerv? Selbst wenn Pikettys Lösungsvorschläge – wie etwa eine globale Steuer für die obersten Einkommensschichten – als nicht sonderlich realistisch gelten: Seit der Finanzkrise hungert man im Land des notorischen Optimismus nach kühnen Ideen. Wann, seit Obamas schon fast vergessenem Schlachtruf, hat zuletzt jemand «Yes, we can!» zu sagen gewagt?

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