Freitag, 13. Juni 2014

Protektoren und Interventen.

aus nzz.ch, 13. Juni 2014, 13:59                                                                                          Wilhelm III. von Oranien-Nassau


Politische Protektion und Intervention in der europäischen Neuzeit
Ohnmacht und Macht der Kleinen



Im 16. und 17. Jahrhundert war es vornehmlich die Konfessionszugehörigkeit, die Gründe und Vorwände für Interventionen lieferte. Nach dem Westfälischen Frieden führte freilich gerade die Lehre von der Souveränität zu einer Stärkung des Interventionsrechts.

Mit einem Brief soll der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch den russischen Präsidenten Wladimir Putin um eine militärische Intervention auf der Krim gebeten haben. Die russischsprachige Bevölkerung werde verfolgt, hiess es in dem Schreiben, das der russische Vertreter am 3. März 2014 im Uno-Sicherheitsrat vorzeigte. Zu ihrem Schutz und zur Wiederherstellung der Ordnung seien Truppen vonnöten. Kurz zuvor waren russische Einheiten auf der Halbinsel einmarschiert, die weiteren Folgen sind bekannt: Ausschaltung ukrainischer Funktionsträger, Referendum und Unabhängigkeitserklärung der Krim, sodann Massnahmen zur Eingliederung in die Russische Föderation trotz internationalem Protest.

Analogien

Handelt es sich bei der Annexion der Krim lediglich um eine geringfügige Neujustierung von territorialen Grenzen, die vor nicht allzu langer Zeit aus der Konkursmasse des Sowjetimperiums hervorgegangen sind? Oder vielmehr um ein gefährliches Präjudiz, das die Grundlagen der internationalen Ordnung und des Völkerrechts zur Disposition stellt? Gerne richtete sich der Blick von Politikern und Kommentatoren während der letzten Wochen auf die Geschichte, wenn es darum ging, die Ereignisse zu interpretieren. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble verglich die russische Übernahme der Krim etwa mit der Eingliederung des Sudetenlandes ins Nazireich im Jahr 1938 – ein Vergleich, von dem sich die deutsche Kanzlerin nach russischen Protesten indes rasch distanzierte.

Dass Schäubles Aussage, die er vor einigen Schülern äusserte, überhaupt zu Regierungsnoten Anlass gab, verweist auf die meist implizite politische Agenda, die historischen Analogien innewohnt. Hätten die europäischen Mächte den Diktator damals rechtzeitig in die Schranken gewiesen, statt die Übernahme nachträglich zu legitimieren, hätte sich Schlimmeres vielleicht verhindern lassen – so lautet die Lektion, die nach entsprechendem Handeln verlangt. Gerade dies macht das Herstellen von historischen Analogien problematisch. Letztlich führen sie primär zu einer Vorentscheidung desjenigen zurück, der die Analogien bildet. Auch der Ereignisse im unmittelbaren Vorfeld des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren ist im Zusammenhang mit der Ukrainekrise gedacht worden: Deeskalation und Vermittlung, lautet in dieser Perspektive der historische Imperativ.

Ungeachtet dieser Problematik historischer Analogien können aktuelle Debatten aber auch dazu anregen, neue Fragen an die Vergangenheit zu richten. Mehr oder weniger inszenierte Bitten von einzelnen Gruppen oder gar Individuen um die Intervention einer fremden Macht zu ihrem Schutz finden wir seit dem Beginn der europäischen Neuzeit, als sich mit der Territorialisierung von Herrschaft überhaupt erst eine Trennung von politischem «Innen» und «Aussen» herausbildete. Nicht die Ethnie, sondern primär die Konfessionszugehörig- keit war es im 16. und 17. Jahrhundert, die Anlass für Friktionen innerhalb einer politischen Ordnung und für Appelle an auswärtige Protektoren gab. Während der Religionskriege in Frankreich wandte sich etwa die hugenottische Partei hilfesuchend an die englische Krone als «Defender of the Faith», später taten die Stände der Provence Entsprechendes, als sie an den «rey católico» Philipp II. von Spanien appellierten.

Auf der Seite der Mächte wurden solche Hilfegesuche zum Gegenstand politischer Kalküle. Die Appelle der fremden Untertanen kamen nicht selten gelegen, um dynastische Rivalen zu schwächen oder gar neue Gebiete hinzuzugewinnen. Doch spielten auch Fragen des Gewissens und der Reputation eine Rolle: War es statthaft, die Rebellion von Untertanen gegen ihren legitimen Herrscher zu unterstützen? Und was meinten, andererseits, Gott und die jeweiligen Religionsangehörigen dazu, wenn die Glaubensgenossen einfach im Stich gelassen wurden? Zumindest auf indirekte Formen der Unterstützung konnten die Hilfesuchenden in der Regel zählen. Die Beziehungen zu auswärtigen Mächten wurden so potenziell zu einem Machtmittel von Untertanen im Verhältnis zu ihrem Herrscher, und dies durchaus nicht nur, wenn es um den Schutz des nackten Lebens und des Gewissens ging, sondern auch beim Aushandeln von Privilegien und lokalen Autonomierechten. – Tatsächlich konnte der Schutz von Untertanen anderer Herrscher für sich genommen einen hinreichenden Grund für eine Intervention auch dann noch darstellen, als sich die Aussenbeziehungen sonst allmählich entkonfessionali- sierten. Die Lehre von der Souveränität, die nach dem Westfälischen Frieden um sich griff, führte paradoxer- weise zu einer Stärkung des Interventionsrechts, wie der Historiker Christoph Kampmann aufgezeigt hat: Da den Untertanen kein Widerstandsrecht mehr zukam, fiel die Verantwortung für den Schutz ihrer unverbrüchli- chen Rechte und Privilegien an die Souveräne – eine Art Vorform der modernen «Responsibility to Protect». Manche Gründe für eine Intervention mögen aus heutiger Sicht gar geringfügig erscheinen: Wilhelm III. von Oranien begründete 1688 seine Invasion in England unter anderem mit der widerrechtlichen Ernennung zweier katholischer Dozenten an einem Oxforder College.

Vom Schutz zur Neutralität

Auch für kleine Republiken, die keiner Herrschaft unterstanden, konnten Protektionsbeziehungen eine Strategie darstellen, um in einer sich verdichtenden Staatenwelt zu bestehen. Die Stadtrepublik Genf wahrte etwa zumindest bis 1782 ihre Unabhängigkeit, indem sie sich zugleich an Frankreich und die eidgenössischen Orte Bern und Zürich band. Und auch die Eidgenossenschaft selbst wurde nicht so sehr der Kraft ihrer Waffen wegen zur europäischen Friedensinsel, sondern aufgrund der multiplen Allianzen der Kantone mit untereinander konkurrierenden Mächten. Als die katholischen Orte 1715 eine Sonderallianz mit dem französischen König eingingen und diesem erlaubten, bei inneren Konflikten zu ihrem Schutz zu intervenieren, erschien Kritikern die Grenze zwischen Absicherung und Abhängigkeit indes überschritten. In der 1777 mit allen Orten erneuerten Allianz war von einem Interventionsrecht keine Rede mehr.

Die Garantie der immerwährenden Neutralität der Eidgenossenschaft auf dem Wiener Kongress stand auf anderen Füssen. Nun waren es nicht mehr situative, einander ausbalancierende Allianzen, welche die Sicherheit des Kleinstaats gewährten, sondern es war der gemeinsame Entschluss der Grossmächte. Nach den Jahren der napoleonischen Hegemonie sollten die Grenzen souveräner Staaten nur noch unter kollektiver Zustimmung verschoben werden können, ein Prinzip, dass sich seither erhalten hat. An den Rändern Europas und auf anderen Kontinenten galten andere Regeln. Doch versuchten die expandierenden europäischen Grossmächte auch hier, Formen direkter wie indirekter Dominanz völkerrechtlich zu ahnden.

Nebst den Kolonien wurden so gegen Ende des 19. Jahrhunderts sogenannte Protektorate ins Leben gerufen, die aufgrund des Verbleibs bestimmter Souveränitätsrechte potenziell auf höhere Akzeptanz stiessen. Im Falle der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina, die ab 1878 von Österreich-Ungarn verwaltet wurden, funktionierte ein solches Verhältnis tatsächlich für einige Zeit leidlich. Erst die formale Annexion durch die Schutzmacht im Jahre 1908 machte den Balkan zum Pulverfass, welches das Attentat des bosnisch-serbischen Studenten Gavrilo Princip auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger vom 28. Juni 1914 schliesslich zur Explosion brachte.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Die Verheerungen der beiden Weltkriege, die Spaltung des Globus in zwei Blöcke mit dominierenden Zentren, die kurze Phase, in der die verbliebene «Supermacht» relativ ungestört ihre Interessenpolitik verfolgen konnte und zugleich erfolgreich militärische Interventionen zum Schutz von Menschenrechten orchestrierte – die Geschichte des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts böte zweifellos ebenfalls viel Anschauungsmaterial für die Macht und Ohnmacht der Kleinen im Rahmen von politischen Schutzverhältnissen. Gewandelt haben sich die Begründungen: weg von allen Herrschaftsrechten, hin zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Global etabliert und zugleich institutionell und rechtlich relativiert wurde zudem das Prinzip staatlicher Souveränität.

Doch ob man nun die Vergangenheit in der Gegenwart spiegelt oder die Gegenwart in der Vergangenheit – das vage Gefühl einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen stellt sich immer wieder ein. Wenn in einem Grenzraum Gruppierungen, die sich bedrängt sehen, die Intervention einer auswärtigen Macht anrufen, so appellieren sie zweifellos an eine völkerrechtliche Schutzverantwortung. Folgt darauf jedoch eine Herrschaftsübernahme, erweist sich die gewährte Protektion als semantische Ummantelung reiner Macht- und Interessenpolitik. Zur Wahrung der neu etablierten Ordnung bedarf es daher anderer Quellen der Legitimation, gegenwärtig etwa einer Volksabstimmung oder, erneut, des Verweises auf die Geschichte.

Auch nach der Krönung Wilhelms III. von Oranien zum König von England traten die ursprünglich angeführten Gründe für die militärische Intervention rasch in den Hintergrund und machten stattdessen der Meistererzählung einer gleichsam autochthon herbeigeführten «Glorious Revolution» Platz. Die im französischen Exil weilenden Anhänger des gestürzten Stuart-Königs hatten dem letztlich wenig entgegenzusetzen.

Dr. des. Nadir Weber ist wissenschaftlicher Assistent am Historischen Institut der Universität Bern.

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