Mittwoch, 25. Juni 2014

Schamlos.

 
aus nzz.ch, 25. Juni 2014, 11:30


Wandel der Gefühlskultur
Die verlorene Scham

 

Was als «normal», was als «anstössig» gilt, ändert sich laufend, lässt sich aber nur schwer beobachten. Hilfreich ist da zeitliche Distanz. In Virginia Woolfs Roman «Mrs Dalloway» kehrt jemand nach fünfjährigem Kolonialdienst nach London zurück – und staunt über Frauen, die sich an diesem Junitag 1923 in aller Öffentlichkeit ungeniert die Nase pudern. Wer heute, sagen wir, von einer Marsreise zurückkehrte, würde sich dagegen wundern, beim Flanieren durch eine europäische Metropole «von Prostituierten umgeben zu sein», vermutet Ulrich Greiner. – Ein Irrtum freilich, handelt es sich doch «in Wahrheit um harmlose junge Frauen [. . .], die keineswegs zu solchen Diensten bereit» sind, auch wenn sie bauchfreie Tops tragen oder mittels Hüfthosen ihre String-Tangas hervorblitzen lassen. Die Zeiten ändern sich eben, und mit ihnen ändert sich das Schamempfinden.
 
Literatur als Laboratorium

Irritiert durch den sich medial entfaltenden Exhibitionismus der Gegenwart, beschäftigt sich der «Zeit»-Journalist und Literaturkritiker mit einer der wohl intimsten Empfindungen überhaupt und mit ihrer Abgrenzung von verwandten Gefühlen wie Schuld oder Peinlichkeit. Dazu erörtert Greiner in seiner durchweg gedankenreichen, elegant geschriebenen Studie «Schamverlust» nicht nur die einschlägigen soziologischen Theorien von Norbert Elias, Richard Sennett, Ruth Benedict oder Sighard Neckel, sondern bedient sich naheliegenderweise auch der Literatur. Diese könne gerade in gesellschaftlichen Umbruchphasen «den Charakter eines Schamlabors annehmen», in dem «emotionale Extremlagen getestet werden».

Wie nah verwandt etwa Schamangst und -lust sind, zeigt Schnitzlers «Fräulein Else»: Das demütigende Ansinnen, sich vor dem künftigen Gläubiger ihres Vaters zu entblössen, kehrt Else um, indem sie sich allen nackt zeigt, also «den Akt der Schamlosigkeit zu ihrer eigenen Sache macht und somit Handlungshoheit gewinnt». Ein von heute aus gesehen modern anmutender Akt, gelte Schamhaftigkeit doch längst nicht mehr als weibliche Tugend. Im Zeitalter von Lady Gaga werde vielmehr gerade die Schamlosigkeit als «Ausdruck weiblicher Vitalität» gefeiert.

Im Unterschied zum schwächeren Gefühl der Peinlichkeit benötige das Schamempfinden keinen Zeugen, dafür jedoch Reflexivität. In Thomas Manns Erzählung «Luischen» fällt der korpulente Protagonist, der aus Liebe zu seiner sadistischen Frau bei einem Fest als Tanzbär im «rotseidenen Babykleide» auftritt, genau in dem Moment vor Scham tot um, als ihm erstmals bewusst wird, wie lächerlich er sich eigentlich macht. «Im Augenblick der Scham sehe ich mich selber als jemanden, der gefehlt hat», schreibt Greiner, «und das Bild, das sich mir plötzlich zeigt, verletzt das Bild, das ich von mir habe oder gerne von mir hätte.» Deshalb sei die Fähigkeit, Scham zu empfinden, keine anerzogene bürgerliche Unart, die man sich abgewöhnen müsse, wie die Achtundsechziger geglaubt hätten, sondern eine wesentliche Bedingung für Moral und Ästhetik. – Sollte das stimmen, lässt das für die Gegenwart nichts Gutes vermuten, denn für diese konstatiert der Autor einen fundamentalen Wandel: weg von einer Schamkultur, hin zu einer «Kultur der Peinlichkeit». Letztere beruhe statt auf Selbstbewertung in erster Linie auf (tatsächlicher oder unterstellter) Fremdbewertung, sei aber für den Einzelnen nicht minder heikel, habe sich doch inzwischen «das Feld der Zwänge und Peinlichkeitsrisiken ins vollkommen Unübersichtliche ausgedehnt». Die Scham existiere stattdessen nur noch in Schwundformen wie den öffentlichen Beichten sich zerknirscht gebender Politiker, in denen sie als «inneres Regulativ» zur blossen «Schamgeste» verkomme.

Mit dieser Diagnose distanziert sich Ulrich Greiner von der Standardthese der Kulturkritik, die je eigene Epoche sei der Höhepunkt der Schamlosigkeit: Wäre dem so, wäre die Geschichte ein Prozess fortlaufender Enthemmung. Doch wo alte Regeln nicht mehr gelten, werden immer auch neue gebildet, betont Greiner. Weshalb es heute, mit Niklas Luhmann gesprochen, «zugleich besser und schlechter» ist: Während etwa frühere Generationen vom Einzelnen erwarteten, Schicksalsschläge mit der heroischen «Contenance» eines Thomas Buddenbrook hinzunehmen, ungeachtet der psychischen Kosten, findet der aussengeleitete Typus der Gegenwart nichts dabei, in der emotionalen Wärmestube Facebook seinen Seelenkummer der Welt zu verkünden, um dafür umgehend mit virtuellem Zuspruch versorgt zu werden.

Peinlichkeit

Doch wehe der Schülerin, «die noch Hüfthosen trägt, während die anderen schon Empire-Hemdchen mit Leggins tragen», so der in Sachen Mode kundige Autor. Die Angst, peinlich zu sein, führe heute, zumal in der jüngeren Generation, zu einer permanenten Verhaltensunsicherheit. Symptomatisch dafür der Protagonist in Leif Randts Roman «Schimmernder Dunst über Coby County» (2011), der jede Geste, jede Regung mit den Vorbildern aus der Werbung abgleicht. Die Angst vor Peinlichkeit betrifft gerade den neuen Exhibitionismus: Ein Lehrer, der im Muskel-Shirt unterrichtet, sollte dies nur mit dem entsprechend trainierten Körper tun, will er nicht zum Gespött seiner Schüler werden. 

Überzeugend führt Greiner die boomende Schönheitschirurgie, die längst auch den Genitalbereich erreicht hat, auf die neue Peinlichkeitskultur zurück. Dass aber die Peinlichkeit, anders als die Scham, keine «ins Existenzielle zielende Energie» besitze, wie Ulrich Greiner behauptet, scheint fraglich, denkt man an in den Suizid getriebene Mobbingopfer.

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 350 S., Fr. 34.90.

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