Montag, 25. August 2014

Dostojewski als Vordenker der großrussischen Reaktion.

aus nzz.ch, 25.8.2014, 05:30 Uhr                                           Ewiges Russland  – der Nationalkünstler Ilja Glasunow bringt die russi- schen geistigen Hierarchien in Öl auf den Punkt. Unter dem gekreuzigten Christus steht mit Bart Fjodor Dostojewski; darunter rechts der Zarewitsch.

Dostojewski als Stichwortgeber der russischen Rechten
Avantgardist der Reaktion


Nachdem Dostojewski in der ehemaligen Sowjetunion aus ideologischen Gründen während Jahrzehnten ein unliebsamer, phasenweise offiziell verfemter Klassiker gewesen ist, gilt er neuerdings bei der meinungsbil- denden politischen und intellektuellen Elite Russlands als prophetischer Künder einer Zukunftsvision, die das Land – sein «Volk» wie sein »Geist»– schon immer in sich getragen habe und die nun endlich nicht nur ausgesprochen, sondern in die Tat umgesetzt werden müsse.

Wenn kommunistische Funktionäre dem als «reaktionär» rubrizierten Autor einst Nationalchauvinismus, Rassismus, Kriegshetzerei, religiösen Obskurantismus und pauschale Vernunftkritik vorgeworfen haben, so werden diese Kritikpunkte heute mehrheitlich ins Positive gewendet, neu ausformuliert und durchweg als produktiv veranschlagt: Man vereinnahmt Dostojewskis Werk – die grossen «Romantragödien» ebenso wie seine publizistischen Schriften – als Kernbestand der aktuell geltenden grossrussischen Ideologie.

Eine an Idolatrie grenzende Verehrung

Diese imperial geprägte Ideologie wird gestützt von der bestehenden Machtvertikale und soll horizontal auf eine «eurasische» Achse gebracht werden, die als Träger für eine kontinentale Völkergemeinschaft gedacht ist. In einer solchen Gemeinschaft sollten sich, dem eurasischen Projekt entsprechend, nicht nur die früheren Sowjetrepubliken, sondern auch die einst kommunistischen «Bruderstaaten» im östlichen Europa zusammenfinden, um unter russischer Führung eine neue Union unter alten Auspizien zu begründen: von Ostdeutschland und dem Balkan über den Kaukasus bis zum Ural, vom Ural über Sibirien bis zur chinesischen Grenze und zum Pazifik. Die russische Orthodoxie wird die geistigen und geistlichen Interessen des multinationalen eurasischen Grossreichs vertreten und den verderblichen Einfluss des westlichen «Freidenkertums» von ihm fernhalten. Die derzeitige Innen- und Aussenpolitik der Russländischen Föderation wie auch die offizielle Kultur- und Kirchenpolitik machen deutlich, dass der «eurasische Weg» konsequent vorangetrieben wird.

Wenn Dostojewski als Apologet des Zarentums und Propagandist der autokratischen Staatsdoktrin in den 1870er Jahren die orthodoxen Balkanstaaten als russisches Interessengebiet herausstellte und deren militärischen Schutz forderte; wenn er zur «Heimholung» Konstantinopels aufrief und gleichzeitig Russlands «Rettung» und all seine «Hoffnungen» auf Asien setzte – dann macht ihn dies zwar nicht zum Propheten, aber doch zu einem autoritativen Stichwortgeber heutiger russischer Expansionspolitik. 

«Dostojewski gehört heute wie zu seinen Lebzeiten zur Avantgarde der Reaktion.» Das paradoxale Verdikt aus der späten Stalinzeit gewinnt in jüngster Zeit überraschende, wenn nicht beängstigende Aktualität, mit dem gewichtigen Unterschied freilich, dass die «Reaktion» in der russischen Gegenwart weit mehr als bloss «Avantgarde» ist – sie bildet nämlich mittlerweile den Hauptharst der politischen, militärischen und intellektuellen Elite, die zu einem fatalen Amalgam von neostalinistischen und neofaschistischen Elementen geworden ist.

Dostojewskis herausragende Position im Gesamtkontext des grossrussischen Geschichtsdenkens wie auch in Bezug auf das gegenwärtige Selbstverständnis der russischen Bevölkerungsmehrheit hat am klarsten der hochdekorierte Nationalkünstler Ilja Glasunow auf den Punkt gebracht, als er zur Zeit der Wende unter dem Titel «Ewiges Russland» ein Monumentalgemälde (drei mal sechs Meter) schuf, auf dem er Dutzende von historischen Persönlichkeiten – Herrscher, Heilige, Kleriker, Philosophen, Kunstschaffende – in Stellung brachte, allesamt überragt vom gekreuzigten Christus und geborgen in einem Ensemble altrussischer Sakralbauten. In der Mitte, am Fuss des Kreuzes, placiert Glasunow in die vorderste Reihe, umgeben von lauter Heiligen Vätern, den Schriftsteller Dostojewski, der vor sich hin sinniert und eine brennende Kerze in der Hand hält. Die Tatsache, dass alle neuzeitlichen Zaren und selbst Puschkin, der gemeinhin als der grösste unter den russischen Klassikern gilt, hinter Dostojewski zurücktreten müssen, unterstreicht dessen singuläre Sonderstellung – es ist eine an Idolatrie grenzende Verehrung, die Glasunow explizit mit den Ideologen der eurasischen Bewegung teilt.

Zu Dostojewskis obsoleten Gedankenspielen gehören nicht zuletzt seine Reflexionen zur Judenfrage. Diese hat er mit besonderer Insistenz und Schärfe in einigen seiner späten, unverhohlen polemischen Aufsätze der 1870er Jahre, aber auch in seinem Roman «Der Jüngling» von 1875 dargelegt. Der grosse Humanist, in dem schon Nietzsche einen der grössten Psychologen überhaupt zu erkennen glaubte, bediente sich damals sämtlicher Register antisemitischer Rhetorik und scheute kein Klischee, um die moralische und rassische Minderwertigkeit des Judentums anzuprangern – «Absonderung und Intoleranz gegenüber allem Nichtjüdischen», «Errichtung eines Staats im Staat», «Beherrschung des Kredits und damit der ganzen internationalen Politik», «Handel mit fremder Arbeit» und «das Bestreben, der Welt das eigene (jüdische) Antlitz und Wesen mitzuteilen».

Demgegenüber möchte Dostojewski das Russentum – leidgeprüft, glaubensstark, demutsvoll, uneigennützig, brüderlich – als weltumgreifendes «Allmenschentum» etabliert sehen, vereint in «Allresonanz» und «Allversöhnlichkeit»; doch ebendiese globale «All-Einheit» schränkt er gleichzeitig wieder ein, führt sie gar ad absurdum, indem er dem «Weltjudentum» die Zugehörigkeit zum «Allmenschentum» versagt.

Der angeblich wurzellose Jude kann weder den patriotischen Ansprüchen noch dem «Allmenschentum» entsprechen, wie Dostojewski es als globale Vision eines russisch fundierten Christentums in Aussicht gestellt hat, das berufen sei, die westeuropäische Idee einer aufgeklärten Zivilisation abzulösen, die – angekränkelt von liberalem Gedankengut und ausgepowert durch kapitalistische Ausbeutung – «einen Teil der Menschen zu Tieren werden lässt, damit der andere im Wohlstand lebe». Liberalismus und Kapitalismus glaubt Dostojewski als Grundlage eines jüdischen Imperialismus zu erkennen, der immer ausgeprägter «zersetzende» Züge annehme und für den die Knechtung der Welt zum Programm geworden sei.

Konkurrenz der Heilserwartung

Mit solchen und ähnlichen Aussagen kann sich Dostojewski auch im heutigen Russland als «Antisemit» beliebt machen, und tatsächlich bezieht sich die neue Rechte oft und gern auf ihn. Eins von vielen Beispielen dafür bietet, nebst zahllosen einschlägigen Websites und Diskussionsforen, das «Enzyklopädische Wörterbuch der russischen Zivilisation», das der Orthodoxe Verlag in Moskau herausgebracht hat. Der voluminöse Band – Obertitel: «Das Heilige Russland» – kolportiert unter dem Deckmantel enzyklopädischer Gelehrsamkeit reihenweise judenfeindliche Statements und antisemitische Klischees, die das Judentum pauschal als Russlands «teuflischen» Erzfeind denunzieren. Ein mehrspaltiger Artikel über Dostojewski besteht denn auch zur Hälfte aus tendenziös ausgewählten und entsprechend kommentierten Zitaten, die den Schriftsteller als entschiedenen Antisemiten und gerade damit als patriotischen Anwalt des Grossrussentums ausweisen sollen.

All diesen unzweideutigen Aussagen zum Trotz wird man sich hüten müssen, Dostojewski als Wortführer eines undifferenzierten Judenhasses in Anspruch zu nehmen. Denn genau so polemisch wie gegen «die Juden» hat sich der grosse Humanist auch gegen «die Katholiken», «die Sozialisten», «die Westler», «die Deutschen», «die Polen» oder die durchweg dummen und hässlichen «Schweizer» geäussert, besonders scharf aber – gegen «die Russen», seine eigenen Landsleute, die er keineswegs nur als auserwähltes «Gottesträgervolk» hochleben liess, sondern auch, fast häufiger noch, als eine dumpfe Herde zutiefst verkommener, brutaler, eigennütziger, rächerischer, anarchischer Unmenschen, denen nichts Tierisches und nichts Teuflisches fremd sei.

Die Vergleichsbeispiele machen seine antisemitischen Ausfälle nicht besser, lassen aber erkennen, dass er nicht nur einfach ein Judenverächter war, dass er vielmehr – generell – zu Misanthropie und Intoleranz neigte, auch wenn er sich noch so wortreich für einen christlich geprägten Humanismus engagierte. Und doch gibt es in seinem gestörten Verhältnis zum Judentum einen wunden Punkt, der seine Irritation dann doch als etwas Besonderes ausweist: Die jüdische Sendungsidee und Heilandserwartung, aus unvordenklichen Zeiten tradiert und lebendig erhalten, bildet für Dostojewski und seinen grossrussischen Messianismus eine gewaltige, vielleicht übermächtige Herausforderung, die er nur als feindselige Konkurrenz und als ständige Bedrohung zu begreifen vermag: Der christliche und der jüdische Anspruch auf Auserwähltheit und damit auch zwei unvereinbare Messianismen stehen einander hier entgegen.

Womöglich sind also Dostojewskis antisemitische Invektiven Ausdruck einer tiefer liegenden, nicht eingestehbaren Bewunderung für eine religiöse Gemeinschaft, die trotz weltweiter Zerstreuung ihre eigene Geistes- und Glaubenswelt zu erhalten vermochte, derweil das kontinental aufgestellte Russentum im selbstmörderischen Konflikt mit seinen eigenen «Dämonen» befangen bleibt, statt endlich – wie Dostojewski es immer wieder gefordert hat – seine «allmenschlichen» Ambitionen durchzusetzen und sie christlich auszuleben.


Nota.

Meine Leser werden verstehen, dass hier die Rede von Dostojewski als politischem Ideologen ist und nicht von Dostojewski als Dichter, der nicht bloß der russsichen, sondern der Weltliteratur gehört.
JE

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