Montag, 25. August 2014

Gegenwartsschock.

Nicht jedes computergenerierte Muster ist bedeutungsvoll – Ausschnitt vom Rand der visualisierten Mandelbrot-Menge.
aus nzz.ch, 26.8.2014, 08:10 Uhr                                                         aus dem Mandelbrot-Baum

«Present Shock» – Douglas Rushkoffs Zeitdiagnose
Gefangen in einer Scheingegenwart


Philosophie, so lässt man sich von Hegel noch immer gerne sagen, ist «ihre Zeit in Gedanken erfasst». Das Umgekehrte gilt freilich nicht ohne weiteres; nicht jede Zeitdiagnose ist schon Philosophie (oder Soziologie, die es zu Hegels Zeiten noch nicht gab). Soll heissen: Nicht jeder Versuch, die Gegenwart zu verstehen, hat die nötige Durchdringungskraft, um einen haltbaren Begriff von dem zu gewinnen, «was ist». Das spricht nicht dagegen, solche Versuche zu unternehmen. Das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Weltdeutung will stets aufs Neue befriedigt sein; und es bringt, so scheint es, in sich steigernder Taktzahl Diagnosen hervor, neue Soundso-Generationen, neue Soundso-Gesellschaften. Das diagnostische Bedürfnis, wie man es nennen könnte, darf insofern selbst als Signatur unserer Zeit gelten; und selbstredend ist auch der Ausdruck «Diagnosegesellschaft» bereits in Umlauf (wiewohl noch nicht so häufig zu vernehmen wie etwa sein altgedientes Pendant «Therapiegesellschaft»).

«Digiphrenie» und «Fraktalnoia»

Im Wortfeld der allgemeinen Sozialpathologie ist kürzlich eine weitere Diagnose gestellt worden. Sie stammt von Douglas Rushkoff, einem New Yorker Medientheoretiker, Netzbeobachter und Kolumnisten, der sich einst im Umkreis des Cyberpunk bewegte und dem ein Miturheberrecht an Prägungen wie «digital natives» und «virale Medien» zugeschrieben wird. Seine Diagnose lautet: «Present Shock». Der Ausdruck ist auf Alvin Tofflers «Future Shock» von 1970 gemünzt. Der Futurologe sah damals dies kommen: «too much change in too short a period of time». Unterdessen ist die Zukunft Gegenwart geworden. Anders als im medizinisch definierten Schockzustand, in dem der Organismus mit Sauerstoff unterversorgt ist, wirkt sich im Gegenwartsschock nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel lebensbedrohlich aus. Es ist jenes Zuviel, über das seit längerem schon alle Genossen des «digitalen Zeitalters» zu klagen Anlass und pausenlos Gelegenheit haben: zu viele Daten und Informationen, zu viel Ablenkung, zu viel Tempo. Alles scheint «jetzt» zu geschehen, in «Echtzeit»; und das, was überhaupt geschieht, ist nurmehr eine unendliche Verkettung von solchen nervösen Jetztpunkten, es ergibt mithin keine Geschichte, keinen Sinn mehr. Wer den Schock erleidet, wessen Filter versagen, der ist in einer elektronischen Scheingegenwart gefangen, die eine Wahrnehmung des Hier und Jetzt gerade verunmöglicht – Diagnose: «Digiphrenie».

Die durch digitale Technologien perforierte Zeit nötigt denen, die in ihr «zeitgemäss» zu leben versuchen, permanent Entscheidungen auf: Öffnen oder nicht? Löschen oder lesen? Antworten oder abwarten? Annehmen oder abweisen? Kurzatmig springt der telegrafisch, telefonisch und telepathisch elektrisierte Mensch, der nicht dort ist, wo sein Körper sich befindet, von Wahlmöglichkeit zu Wahlmöglichkeit – und überspringt dabei seine eigene Gegenwart. «Es ist», schreibt Rushkoff, «wie ein Tanz mit einem Partner, der den Rhythmus vorgibt, uns aber weder sieht noch spürt.»

Zum ausufernd weiten Krankheitsbild des «Present Shock» gehört nach des Autors Diagnose noch mancherlei Symptom. Der Rede wert wäre gewiss die «Apokalypsie», die Sehnsucht nach einer Zäsur, einer Erlösung aus der aufreibenden Existenz in Zeiten der Teletechnologie – eine Reaktion auf den Gegenwartsschock, die Rushkoff aber als weitere Facette des Syndroms schildert. Er attestiert sie auch den Trans- und Posthumanisten, die (mit Ray Kurzweil) dem Augenblick entgegenfiebern, da sie ihre beschwerliche menschliche Hülle abstreifen und nurmehr elektronische Impulse sein werden in einem weltumspannenden technologischen Nervensystem. – Solche Apokalyptiker haben immerhin eine Geschichte zu erzählen.

Hervorgehoben sei aus der reichhaltigen Symptompalette insbesondere, was Rushkoff «Fraktalnoia» nennt – in Anlehnung an die computergenerierten geometrischen Muster, die der Mathematiker Benoît Mandelbrot auf den Namen «Fraktale» getauft hat und die nach des Medientheoretikers Einschätzung in der frühen Cyberkultur eine ähnliche Rolle spielten wie die Paisleymuster in der Hippiebewegung der sechziger Jahre. Zur «Fraktalnoia» komme es, wenn Mustererkennung zur Manie werde; und nach Mustern suche, wer geneigt sei, die Welt aus den Datenströmen der unmittelbaren Gegenwart zu erklären, wer keine Weltgeschichte mehr vor Augen habe, sondern eine zu zeichnende Weltkarte, auf der alles mit allem «verlinkt» werden könne.

Da kleine, herangezoomte Ausschnitte eines Fraktals – Stichwort: «Selbstähnlichkeit» – genauso aussehen wie grössere oder das Gesamtgebilde, ist nicht erkennbar, welcher Dimension das jeweils Sichtbare entstammt. Dieser Umstand macht Fraktale für Rushkoff zu einem Sinnbild übertriebener Mustersuche im Zustand des Gegenwartsschocks, die dazu verführe, im Nebel zu stochern: Von grassierenden Verschwörungstheorien bis zu kurzfristigen Kursprognosen an der Wall Street reicht das bunte Bukett an Beispielen.

Die Katastrophe

Alles mit allem – und beinahe gleichzeitig – in Verbindung zu bringen, könnte indes auch als Charakteristikum dieser Art der Zeitdiagnostik gelten. Es ist gewissermassen ein Berufsrisiko des Diagnostikers, mit seinen Analysen selbst dem Symptom verhaftet zu bleiben. Ein weiteres Risiko könnte sein, nach der Therapie gefragt zu werden, die die diagnostizierte Krankheit zu kurieren vermöchte. Auch in diesem Punkt erweist sich Rushkoff als Sohn seiner – unserer – Zeit. Auf die Bremse treten statt aufs Gaspedal, lautet seine unoriginelle, aber gewiss nicht grundfalsche Antwort.

Dass ihm dabei nicht der Griff nach der Notbremse vorschwebt, den Walter Benjamin, revolutionär und apokalyptisch gestimmt, einst empfahl, dürfte evident sein. Douglas Rushkoffs Devise steht am Schluss seines locker gestrickten Buches, das allenthalben für eine neue «Balance» wirbt: «innehalten – und wieder loslegen». Der Autor scheint zu glauben, es komme nur darauf an, die richtigen Programme zu schreiben, um die Maschinen für uns und nach menschlichem Rhythmus arbeiten zu lassen. – Gewiss, so könnte es weitergehen. Jedoch: «Dass es ‹so weiter› geht», hielt Benjamin dem Fortschrittsoptimismus entgegen, «ist die Katastrophe.»

Douglas Rushkoff: Present Shock. Wenn alles jetzt passiert. Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann. Orange Press, Freiburg i. Br. 2014. 286 S., Fr. 37.90.

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