Donnerstag, 30. Oktober 2014

Die andere Hälfte der islamischen Tradition.


aus Badische Zeitung, 30. 10. 2014                                                                   Anselm Feuerbach, Hafis vor der Schenke

"Der Orgasmus als göttliches Zeichen"
BZ-INTERVIEW mit dem Autor und Islamwissenschaftler Navid Kermani über die Gründe für die verlorene Erotik im Islam.

von msr

Ausschweifungen im Harem, sexuelle Abhandlungen in theologischen Werken, Sinnlichkeit in der Dichtung – in der islamischen Kunst und Kultur wimmelt es vor erotischen Darstellungen. Doch durch den Einfluss des Salafismus wurde die Körperlichkeit in der islamischen Welt zusehends aus dem öffentlichen Leben verbannt. BZ-Redakteur Michael Saurer sprach mit dem Islamwissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani über die Ursachen, die Folgen – und die brennende Sehnsucht der ersten Liebe. Über die hat Kermani einen Roman geschrieben. 
 
BZ: Herr Kermani, Sie schreiben in Ihrem Roman "Große Liebe" über die Erlebnisse eines 15-Jährigen, der sich in eine ältere Schulkameradin verliebt. Erinnerungen an Ihre eigene Jugend?

Kermani: Es ist nur insofern eine persönliche Erinnerung, als jeder Mensch ein erstes Mal verliebt war. Und ich greife mit dem Buch die Tradition der Liebesdichtung auf, wie sie bis in die Moderne üblich war: die Darstellung der jugendlichen Verliebtheit und nicht die der lebenslangen Ehe. Die Literatur des Eheromans kam ja erst mit der Einführung der Liebesheirat auf. Davon war man in der vormodernen Zeit gar nicht ausgegangen, dass man den heiratet, den man liebt.

BZ:
Dieses Rasende, das Brennende der ersten Liebe, unterstreichen Sie durch Einsprengsel aus der islamischen Lyrik. Was unterscheidet die von unserer?


Kermani: In den meisten Religionen gibt es die Analogie der Liebe zwischen Mensch und Gott mit der Liebe zwischen Mann und Frau.* Insbesondere in der Mystik hat sich diese Betrachtung durchgesetzt. Was die islamische Mystik von der westlichen unterscheidet, ist, dass sie die körperliche und irdische Liebe nicht analog setzt, sondern sie als Schauplatz der göttlichen Liebe begreift. Das heißt der Mensch, der körperlich liebt, der vereinigt sich real mit Gott.

BZ: Aber auch sprachlich unterscheidet sich die arabisch-persische Liebeslyrik deutlich von der westlichen. Die Gefühle werden tiefgehender, fast schon schwülstig wiedergegeben.


Kermani: Zunächst möchte ich sagen, dass auch Dante oder Shakespeare keineswegs nüchtern geschrieben haben. Aber prinzipiell ist die islamische Liebeslyrik konsequenter. Sie nimmt die irdische Liebe nicht nur metaphorisch auf, sondern heiligt sie. Das liegt daran, dass die islamische Theologie einfach erotischer ist. Sie finden in ganz normalen Abhandlungen, etwa bei Al-Ghazali, den Orgasmus behandelt, nämlich als göttliches Zeichen.

BZ: Auch in den Geschichten aus 1000 und einer Nacht wimmelt es von handfesten sexuellen Erlebnissen.


Kermani: Und wie! Dort ist es natürlich nur die körperliche Liebe, da braucht man nichts Göttliches hinein zu interpretieren. Aber wenn man liest, wie explizit sexuelle Erlebnisse dort dargestellt werden, und zwar in direkter Nachbarschaft mit Koranversen, dann erkennt man, dass dieser Bereich in der klassischen islamischen Tradition in keiner Weise tabuisiert war.

BZ: Das ist aber ein Kontrast zu heute. Heute scheint man in der islamischen Welt das Sexuelle eher aus dem öffentlichen Leben zu verbannen.

Kermani: Das ist richtig. Man kann es eine Protestantisierung des Islams nennen, die im 19. und 20. Jahrhundert stattgefunden hat. Alleine die Schriftgläubigkeit, das heutige Ideal der Fundamentalisten, zeigt, um was es insbesondere den Salafisten geht: Um einen radikalen Bruch mit der eigenen islamischen Tradition.

BZ: …die heute negativ wahrgenommen wird.


Kermani: Genau! Sie sagen ja immer, dass sie nicht zurück ins islamische Mittelalter wollen, sondern zurück an den Anfang des Islams, also ins siebte Jahrhundert. Das ist es genau das, was der Salafismus anstrebt, nämlich eine explizite Negation der islamischen Kultur und Tradition. Deshalb werden Moscheen zerstört, Mystik und Literatur abgelehnt. Selbst 1000 und eine Nacht, diesen Zentraltext der arabischen Kultur, wollten die Salafisten in Ägypten verbieten. All diese kulturellen Errungenschaften werden negiert. Stattdessen wird versucht, die Uhren an einen imaginären Ur-Anfang zurückzudrehen, den es so natürlich nie gegeben hat.

BZ: Trifft das nur auf Salafisten zu, oder ist dieser Bruch mit der eigenen Kultur im islamischen Mainstream angekommen?


Kermani: Generell sieht man, dass der Wahhabismus, diese ganz strenge, puritanische Form des Islams – aus der auch der Salafismus hervorgegangen ist – zu einer prägenden Bewegung der gesamten islamischen Gegenwart geworden ist.

BZ: Hat man im Zuge dieser puritanischen geistigen Revolution die Sinnesfreuden, das Lebensbejahende verloren?


Kermani: Nicht nur verloren, das wurde zerstört. Selbst orthodoxe theologische Traditionen sind unter Druck geraten. Schauen Sie sich einmal an, wie melodiös und kunstvoll Koranrezitationen noch vor wenigen Jahrzehnten waren. Das war große Kunst, sogar Christen sind dazu gekommen, weil die so genussvoll anzuhören waren. Diese Vielfalt ist durch den Einfluss der Wahhabiten kaputt gegangen oder jedenfalls stark eingeschränkt.

BZ: Hat man die Menschen dadurch nicht auch ihrer Identität beraubt?


Kermani: Ganz sicher. Aber der Bruch liegt nicht nur an den Wahhabiten oder Salafisten. Angefangen hat es in der radikalen Säkularisierung der meisten islamischen Länder im 20. Jahrhundert. Denken Sie an Reza Shah im Iran, Atatürk in der Türkei, die arabischen Diktaturen, die Baath-Partei in Syrien und im Irak. Das waren gewalttätige und dezidiert antireligiöse Modernisierungen, die da stattgefunden haben. Das Elend der islamischen Welt ist dieser gewalttätige, von oben verordnete Bruch mit der eigenen Geschichte.

In Europa hat sich die Moderne langsam herausgebildet. In der islamischen Welt wurde dieser Prozess innerhalb von zehn, zwanzig, dreißig Jahren mit Gewalt durchgeführt. Dabei wurde die Kontinuität der Tradition unterbrochen und Fundamentalisten hatten überhaupt erst die Chance, Gehör zu finden. Es ist ein Zeichen von Geschichtsvergessenheit, dass sie mit ihrer Botschaft Erfolg haben. Denn die widerspricht allem, was die islamische Kultur eigentlich ausmacht. Fundamentalismus ist genauso wie ein übersteigerter Nationalismus kein Ausdruck von Selbstbewusstsein, sondern von Unsicherheit – man will sich irgendwo festhalten.

BZ: Gibt es Hoffnung, dass die Muslime sich wieder mehr ihrer Tradition besinnen oder ist der Zug abgefahren?


Kermani: Das würde sehr schwer werden. Eine Tradition, die abgebrochen wurde, kann man nicht so leicht wieder herstellen. Tradition ist nichts, was man einfach so beibringen kann. Mit der wächst man auf, die atmet man ein. Das mag in einzelnen Fällen gelingen, ich habe aber nie beobachtet, dass eine Gesellschaft das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht hat.

–Navid Kermani: Große Liebe. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2014. 224 Seiten, 18,90 Euro. Lesungen: Der Autor liest am 2. November um 11 Uhr in der Rainhof Scheune in Kirchzarten und am selben Tag um 17 Uhr in Schloss Bonndorf.

Navid Kermani wurde 1967 in Siegen als Sohn iranischer Einwanderer geboren. Er studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft. Im Jahr 1998 beendete er seine Promotion mit einem Thema über die sprachliche Ästhetik des Korans. 2006 zog er die Habilitation nach. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit schrieb er lange Zeit für verschiedene Tageszeitungen. Heute lebt er als freier Journalist und Buchautor in Köln. Am 23. Mai dieses Jahres hielt er die Festrede im Bundestag anlässlich des 65. Jahrestags des Grundgesetzes.

*) Nicht so prüde, Herr Kermani! Die Salafisten haben Sie doch nicht etwa angesteckt? Sagen Sie's offen: Auch Knaben wurden nicht gering- geschätzt, weder von Hafis noch in 1001 Nacht. JE
 

Nota. - Das Kreuz ist eben, dass es den Islam als eine definierbare Religion nicht gibt. Es gibt Länder, deren Kultur jahrhundertelang durch die koranischen Lehren und Gesetze geprägt wurde. Neben der bloßen Schrift- auslegung der Rechtsgelehrten stand überall mehr oder weniger ausgeprägt eine mystische Strömung der Gottesverhrung, die in den sufitischen Bruderschaften ("Derwische") überliefert wurde; in den vorwiegend sunnitisch geprägten Regionen in teilweise kämpferischem Gegensatz zu den Schriftgelehrten, doch mit starkem, von den Obrigkeiten argwöhnisch betrachteten Einfluß auf die Volksfrömmigkeit; bei den Schiiten dagegen reichte ihr Einfluss bis in die Gelehrsamkeit hinein. 

In den mystischen Strömungen auch der Juden und Christen, nicht nur im Islam, gilt die irdische Liebe stets als Bild der Vereinigung mit dem Göttlichen, und dies naturgemäß eher in dichterischer als in gelehrter Form. Von ihnen vielmehr als von den diversen Schulen der Gesetzesauslegung war das Bild geprägt, das der Westen sich über die Jahrhunderte vom Islam gemacht hat. Sie vor allem waren von Aufklärung, Säkularisierung und Rationalisierung getroffen, denn sie repräsentierten den "mittelalterlichen" Islam, den auch die Salafisten verurteilen. Dahin führt wohl kein Weg zurück; sollte er denn?
JE

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