Mittwoch, 17. Dezember 2014

Die Fortschritte des Atheismus bei den Arabern.

aus nzz.ch, 17.12.2014, 05:30 Uhr                                                                              Truhe mit dem Bart des Propheten 

Atheismus im Mittleren Osten
Eine postislamistische Generation?
Die arabischen Aufstände scheinen gescheitert – und die radikalen Islamisten die Gewinner. Tatsächlich aber haben die Revolten von 2011 eine Bewegung freigesetzt, die vielfach unbemerkt blieb: die Hinwendung zum Atheismus. Dessen Anhänger sind dem «Islamischen Staat» zahlenmässig sogar weit überlegen. 

von Mona Sarkis 

2014 befragte die Al-Azhar-Universität, Ägyptens wichtigste religiöse Institution, 6000 Bürger und kam zum Ergebnis: 12,3 Prozent von ihnen sind Atheisten. 2012befragte das renommierte Marktforschungsinstitut Win/Gallup International 502 Saudiaraber und kam zum Ergebnis: 19 Prozent von ihnen sind «nicht religiös», weitere fünf Prozent gar überzeugte Atheisten. Vorausgesetzt, dass diese Zahlen repräsentativ sind, hiesse das: Fast ein Viertel der rund 29 Millionen Saudis ist latent oder akut religionsmüde. Und das ausgerechnet in dem Land, das die heiligsten Stätten des Islam hütet und dessen Herrscherhaus seit 1744 seine gesamte Raison d'être auf einem fundamentalistischen Religionsverständnis aufbaut.

Höllenpredigten statt Argumente

Wie gross der von Win/Gallup konstatierte Sündenfall demnach ist, beweist nichts besser als Riads Reaktion: Im März erklärte es die Infragestellung der islamischen Fundamente Saudiarabiens zum «terroristischen Akt». Weniger radikal, aber nicht minder konfus fiel die Reaktion Kairos aus: Eine nationale Kampagne soll die verlorenen Schafe – die gemäss Verfassung kriminell und mit Haft zu bestrafen sind – wieder in den Schoss der Gesellschaft holen. Das Problem ist nur: Keiner weiss, wie. Denn um die Dialoge, zu denen aufgerufen und eingeladen wird, fruchten zu lassen, müssten die Religionsgelehrten die Intelligenz der jungen Zweifler ansprechen. Gerade das aber misslingt ihnen zumeist. «Das Gros von ihnen hat nie gelernt, logische Fragen zu stellen, geschweige denn, solche zu beantworten», erklärt die 22-jährige Ägypterin Aynur. Stattdessen schwinge der Klerus vorzugsweise die Keule buchstabentreuer Gottesfurcht und traktiere seine Kritiker mit Szenarien von Höllenfeuern. «Allerdings wirkt das neben all dem, was wir hier wirklich durchmachen, irgendwann ausgesprochen lächerlich», meint Aynur.

Wie viele andere Muslime fühlte sich die junge Frau von Fragen umgetrieben: «Es ist also aus religiöser Sicht gut, eine Frau wegen Ehebruchs zu steinigen – aber einen 70-Jährigen, der eine 10-Jährige heiratet, soll man beglückwünschen?!» Oder: «Gott gab den Homosexuellen Instinkte – verbietet ihnen aber, diese auszuleben. Wozu gab er sie ihnen dann? Um sie zu quälen?» Oder: «Wenn Gott und Mensch zwei voneinander getrennte Entitäten sind, muss Gott doch räumlich begrenzt sein? Sonst könnte er ja in den Menschen einfliessen – womit Gott und Mensch eins wären.»


Artikuliert werden solche Fragen und Ideen vor allem in den sozialen Netzwerken. Über 70 arabisch- und englischsprachige Facebook-Seiten mit atheistischen Inhalten verzeichnet der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker von der Universität Wien 2013 in einem Überblick. Die Autoren seien Jordanier oder Sudanesen, Palästinenser oder Marokkaner, Kuwaiter oder Libyer, mit einer Follower-Gemeinde von acht («Die Atheisten Omans») bis 28 000 («Syrische Atheisten»). Dass diese Seiten nahezu alle seit 2011 entstanden sind, ist zweifellos den arabischen Revolten geschuldet, die Menschenrechte und persönliche Freiheit grossschrieben. Anderseits aber brachte der damalige Umbruch nur ans Licht, was schon lange gegärt hatte. Entsprechend lassen sich im arabischsprachigen Internet atheistische Themen finden, die bereits in der voraufgehenden Dekade gepostet wurden. Dies ist nicht weiter verwunderlich: Gerade in jenem Jahrzehnt kamen zwei Faktoren zusammen, welche die Entwicklung des Atheismus im Mittleren Osten verstärkten und beschleunigten. Als Erstes wäre das Internet zu nennen, das um die Jahrtausendwende in die Region einzog und quasi die Revolution vor der Revolution einleitete: Von den Schriften muslimischer Freidenker des Mittelalters über den Werdegang des schillernden einstigen Salafisten Abdullah al-Qasimi (1907 bis 1996) bis hin zu den Ansichten Che Guevaras oder des US-Nobelpreisträgers Richard Feynman waren plötzlich alle erdenklichen Informationen zugänglich und wurden regelrecht verschlungen.

Dass das Bedürfnis, andere Weltsichten kennenzulernen, aber überhaupt so gross war, ist wohl weniger der Globalisierung zuzuschreiben als vielmehr der Eskalation des politischen Islam, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts unübersehbar wurde. Dabei galt diese Ideologie in den 1980er Jahren noch als Wunderwaffe der Muslime nach einer schier endlosen Kette von Niederlagen. Vor allem der Sieg Israels im Sechstagekrieg von 1967 hatte die Entwicklung eingeläutet: Weil damals der Panarabismus kollabierte, der die Massen mit Stolz – und offensichtlich überzogenen Erwartungen – erfüllt hatte, suchte man einen anderen geistigen Rettungsanker. Die Reislamisierung begann, längst abgelegte Kleidungsstücke wie das Kopftuch kamen wieder in Mode – aber die beschworene «Stärke der Umma», der islamischen Gemeinde, war damit noch nicht bewiesen.

Dies gelang erst den Mujahedin der achtziger Jahre, die die Sowjets aus Afghanistan vertrieben und so aller Welt demonstrierten, dass die Kombination aus extremer Religiosität und politischem Willen sehr wohl handfeste Siege erringen kann. In den folgenden Jahrzehnten zeitigte das Konzept allerdings Auswüchse, die immer mehr Muslime abstiessen. «Das Wort Gott ist für mich Synonym für Rückwärtsgewandtheit, Grausamkeit, Rassismus und Mordgier», notierte ein junger Muslim 2007 in Reaktion auf die Anschläge der Kaida im Irak. Die Gewaltexzesse des Islamischen Staats lagen damals noch jenseits des Vorstellbaren.

Der Islam ist nicht länger «die Lösung»

Noch wenn man vom pervertierten Glaubens- und Gesellschaftsverständnis solcher Extremisten absieht, bleibt die Frage, was der politische Islam eigentlich je geleistet hat. Die Antwort darauf blieben 2012 auch die Muslimbrüder schuldig – ihrer Parole «Der Islam ist die Lösung» zum Trotz. «Viele Ägypter hatten nach Hosni Mubaraks Sturz auf die Bruderschaft gehofft. Sie, die selbst jahrzehntelang unterdrückt worden war, sollte die Antithese zu Korruption und Gewaltherrschaft sein. Aber sie entpuppte sich bloss als eine weitere Synthese», resümiert Aynur.

Die Einsicht, dass der bisher praktizierte politische Islam in die Irre, aber nicht aus dem Abseits führt, beginnt auch dort Fuss zu fassen, wo man es zuletzt erwartet hätte. So sorgte der saudische Scharia-Gelehrte und ehemalige Salafist Abdullah al-Maliki 2011 mit einem Buch für Aufsehen, in dem er den Schlachtruf «Der Islam ist die Lösung» in «Die Souveränität der Umma ist die Lösung» abwandelte. Seine These: Die Revolten seien ausgebrochen, damit die Herrschaft der Individuen, Sippen oder Einzelparteien ende und das Volk Referenzpunkt der Legislative werde. Zwar bleibt für Maliki die Scharia der Dreh- und Angelpunkt der Verfassung, doch über die Art ihrer Anwendung soll einzig der Urnengang des Volkes entscheiden. So verschwommen seine These auch noch klingt: Sie ist ein Plädoyer für ein demokratisches Modell. Und aus dem Mund eines einstigen Ultrakonservativen, der obendrein noch in Saudiarabien lebt, ist das nicht wenig.

Fürs Erste, befindet der Syrer Fadi, sei es sogar mehr als genug. Dies überrascht, da der 36-Jährige an sich bekennender Atheist ist. Dennoch hält der Computeringenieur aus Homs es für fatal, die Religion aus lauter Frustration über ihren Missbrauch durch Machtmenschen über Bord zu werfen. Fadis Argumentation ist dabei keineswegs kulturhistorisch, sondern überaus pragmatisch ausgerichtet: Seit 1967 sei der Islam nachgerade zur identitätsstiftenden Konstituente aufgebaut worden. Ihn jetzt unreflektiert abschütteln zu wollen, hiesse, ein Vakuum zu schaffen, das nicht die Souveränität der Völker, sondern den nächsten Absturz bringe.

Extreme statt Synthese

Tatsächlich mag die Hinwendung zum Säkularismus oder gar Atheismus vorab denjenigen Muslimen leichtfallen, die sich im Internet bewegen und möglicherweise auch Auslanderfahrung haben. Für die meisten aber wäre für eine derartige Entwicklung zumindest ein Bruchteil jener Zeit vonnöten, die etwa die europäische Aufklärung beansprucht hat. Genau das aber scheint unmöglich: Seit vier Jahren überschlagen sich die Ereignisse, treten die Extreme immer schärfer hervor. Der Soziologe Asef Bayat von der Universität Illinois bleibt indes zuversichtlich und prognostiziert den «Postislamismus» – ein System, in dem radikale religiöse Lesarten schrittweise zugunsten einer Fusion mit zivilen Freiheiten aufgegeben werden. Eine solche Entwicklung wäre zu begrüssen; klar bleibt aber vorerst nur: Die ideologischen Kontinentalplatten des Mittleren Ostens reiben derzeit gewaltig aneinander.


Nota. - Wie praktisch für eine Religion, wenn sie eine heilige Kirche hat und eine gesalbte Priesterschaft! Die sind nämlich nur solange Hüter der dogmatischen Reinheit, wie... sie es sich leisten können. Alles oder nichts ist ihre Devise nur, solange Alles "machbar" bleibt. Wenn nicht, nehmen sie eher mit der Hälfte vorlieb, als sich auf Null setzen zu lassen; so viele Mäuler wollen gestopft, so viele Anliegen berücksichtigt sein! 

Kirche und Klerus sind von Natur Pragmatiker, sie werden irgendwie für ihr Überleben sorgen - und für das der Religion. Als im aufgeklärten 18. Jahrhundert unter den Gebildeten der Deismus Mode wurde, dem zufolge GOtt zwar die Welt erschaffen, sich hernach aber zur Ruhe begeben hatte, da ereiferten sich die Krichenmänner und nannten es einen Atheismus-light. Am Ende des Jahrhunderts erlebten sie aber, wie man auf ihre Dienste ganz verzichtete und nur noch ein Höheres Wesen, womöglich sogar bloß Die Vernunft verehrte, und viele von ihnen aufs Schafott schickte. Da kehrten sie sich in das Unvermeidliche. Das Abendland wurde säkular, das Gewissen frei und die Menschenrechte fast schon selbstverständlich. Die Kirchen mussten den Gürtel enger schnallen, aber schlecht geht es ihnen noch heute nicht. Und viele Menschen sind noch immer froh, dass es sie gibt.

So sarkastisch es klingt: Der Islam hat eine solche Rückzugslinie nicht. Wenn er gegen die Säkularisierung bestehen will - als Glaube ohne bestimmten Inhalt einerseits und doch andererseits als kleinliches Regelwerk für den Alltag -, dann bleibt ihm als Rückzugsstellung überhaupt nur Alles! Der Salafismus, die Rückkehr zu den Ursprüngen und der Ausstieg aus der Geschichte ist der Islam mit dem Rücken zur Wand. Er hat eine blutige Gegenwart, aber keine Zukunft.
JE

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