Samstag, 17. Januar 2015

Muss Deutschland führen?

aus nzz.ch, 17.1.2015, 09:00 Uhr                                                                                Spitzweg, Sonntagsspaziergang

Deutschland darf wieder führen
Biedermeierseele und Aufklärungspatriotismus
Deutschland ist zum Symbol und Schrittmacher europäischer Zivilisation geworden. Gedrückt von historischer Last, wagt es Selbstbewusstsein nur zaghaft. Die Verteidigung der Aufklärung gibt ihm die Chance, Europa verantwortungsbewusst zu inspirieren.

von Ulrich Schmid, Berlin

Der sinnfälligste, der deutscheste Moment der letzten Jahre? Keine der Pegida-Demonstrationen. Der Verdruss und die Angst, die sich hier manifestieren, sind europäische Phänomene, nicht spezifisch deutsche. Nein, die Auszeichnung geht an die Demonstration der Schuhwerfer vor dem Schloss Bellevue vor ziemlich genau zwei Jahren. Ein paar Dutzend gut gekleidete Bürger, meist ältere Semester, die ihr poliertes, in Plastictüten mitgebrachtes Schuhwerk in die Höhe reckten im Bemühen, möglichst südländisch, möglichst «authentisch» zu wirken. Sie wirkten nur saturiert, manierlich und überaus biedermeierlich deutsch, und in den kommenden Monaten sollte ihre «Wut» auf den damaligen Präsidenten Wulff und dessen ungeheuerliche Verfehlungen langsam, aber sicher verebben im Zuge der Erkenntnis, dass der mediokre Mann an der Spitze des Staates entgegen allen Beteuerungen der Medien eben doch kein Kapitalverbrecher war. Als Wulff ging, war er schon vergessen.

Döner – ohne Beilage

Der Biedermeier vergisst schnell, das ist vielleicht sein menschlichster Zug. Sein Kleingeist kam den literarischen Schöpfern des fiktiven Gottlieb Biedermeier, dem Juristen Ludwig Eichrodt und dem Arzt Adolf Kussmaul, schon viel verdächtiger vor. Auch dem Biedermeier, der in den letzten Jahren in Deutschland wieder erwacht ist, gebührt Argwohn. Weltabgewandtheit, die Sehnsucht nach Heimat und Überschaubarkeit, die spitzwegartige Ausblendung der ach so garstigen Realität, der Rückzug in eine liebliche, oft mythisch, oft nationalistisch überhöhte Idylle: Der Biedermeier nimmt die Komplexität der Welt nicht wahr, und das ist, leider, nicht nur sein Problem. Man sieht den Teil und entrüstet sich, dem Ganzen verweigert man sich. Die Grundlagen des Wohlstandes sind so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr mitgedacht werden. Man will reich sein und vom Welthandel profitieren, aber man hasst die Globalisierung. Man will den Döner, aber nicht den Türken. Man will «Freiheit», aber man verachtet Wettbewerb und Markt. Man behauptet, man sei gegen den spähenden «Big Brother» Staat, dabei liebt man ihn heiss, zumindest solange er in Gestalt des Steuerfahnders in Erscheinung tritt. Die Grünen auf Bundesebene wünschen, dass der erneuerbare Strom aus dem Norden in den Süden gebracht werde – aber vor Ort protestieren Grüne gegen jeden einzelnen Strommast.


Dauerhaft abgelenkt und empört, neigt der Biedermeier dazu, jede Politik, die nicht mit der Produktion des Paradieses beschäftigt ist, als unbrauchbar zu qualifizieren. Er liebt die Verdammung, und die Medien servieren ihm das Gewünschte, liebevoll zugespitzt und überhöht. Doch mit einem vernichtenden finalen Paukenschlag kann sich der Korrespondent dem Biedermeier zuliebe von Deutschland nicht verabschieden. Ja, wenn es um Frankreich oder Russland ginge! In Paris ein Phrasen dreschender Präsident, der reale Politik kaum mehr zu gestalten vermag, in Moskau ein törichter, aufgeblasener Neoimperialist mit mächtiger Liebe zur untergegangenen Sowjetunion. In Berlin dagegen herrscht die kluge, nüchterne Kanzlerin Merkel, die Pomp ebenso verabscheut wie das Anmassende. Sie hat zwar keine Visionen. Scharfsichtig ist sie dennoch.

Deutschland gedeiht. Die Wirtschaft gedeiht. Man ist reich, man ist Exportweltmeister oder dann doch ganz an der Spitze. Die Tarifpartner reden, man schiesst nicht, man streikt, und dann einigt man sich. Die Institutionen funktionieren, Korruption ist rar. Deutschland ist bussfertig geblieben, welches andere Land baute seinen einstigen Opfern Denkmäler? Als Oppositioneller, als Hedonist, als Lesbe, Schwuler, Transsexueller, als Gottloser oder Querdenker lebt es sich ganz gut hier.

Russische Politiker, erschreckt vom Bild der Conchita Wurst, die ihnen zum Symbol westlicher Dekadenz geworden ist, haben das Ende Europas ausgerufen. Deutschland lächelt und begrüsst die Vielfalt. Der Mittelstand überlebt, trotz einem extrem hungrigen Staat, das Zusammenleben ist gut organisiert. Es gibt eine schöne Grundsolidarität in der Gesellschaft, nichts beweist es besser als die kaum je erwähnte und doch so unerhört eindrückliche Bereitschaft von Millionen Bürgern, ehrenamtlich Gutes zu tun.

Liberaler Suizid

Das Land ist gut, seine Regenten sind es nicht so ganz. Die letzten sieben Jahre waren ein einziger kontinuierlicher Abstieg. Der breite gesellschaftliche Konsens hat nach den mühsamen christlich-liberalen Jahren endlich seine parlamentarische Entsprechung gefunden. Das Resultat ist ein strukturell und ideell verödeter Bundestag, der fast nur noch aus einem breiten, sozialdemokratischen Mittelfeld besteht. Das liberale Element ist endgültig exorziert, der Kult des Staates und der Umverteilung mit ganz grosser Kelle kann fortan ungestört betrieben werden. So mancher Feuilletonist jubelte, als es so weit war: Endlich ein Parlament ohne FDP, endlich ein Parlament, das intellektuell verarmt! Helle, sprudelnde Freude an der Einfalt: Biedermeier pur, auch hier. Merkel ist zur Leiterin einer blassrosa sozialdemokratischen GmbH avanciert, die sich die Gunst der Massen durch permanente Abgabe von immer neuen Geschenken sichert. Sozialreformerische Ambitionen sind passé. Der Letzte, der solches schaffte, war Gerd Schröder mit seiner Agenda 2010, ironischerweise ein Sozialdemokrat.

Die Liberalen hätten sich retten können, und das hätte nicht nur ihnen, sondern dem Land gutgetan. Wären sie damals Frank Schäffler gefolgt, hätten sie sich mutig gegen ein Europa gestemmt, das Schulden, Haftung und Verantwortung vergemeinschaftet, und hätten sie für dieses urliberale Aufbegehren zur Not auch den Bruch mit der Union gewagt, sie sässen heute noch im Bundestag. In der Opposition zwar, aber stark, erkennbar, attraktiv und mit einem Echo in den Medien. Die Alternative für Deutschland (AfD) dagegen hätte es sehr viel schwerer gehabt. Das Thema der liberal inspirierten Euro-Kritik wäre besetzt gewesen, die Alternative für Deutschland hätte sich genötigt gesehen, von allem Anfang an den garstigen, ressentimentgeladenen Rechtspopulismus zu pflegen, mit dem sie jetzt gross zu werden hofft.

Und Rechtspopulismus heisst die Gefahr, die Deutschland jetzt bedroht. Der islamistische Terror ist ernst zu nehmen, natürlich, doch siegen wird er ebenso wenig wie einst der linke Terror, falls die Politik kühlen Kopf bewahrt. Rechtes Gedankengut aber gedeiht auf heimischem Boden, und leider gedeiht es gut. Der breite Konsens beginnt zu bröckeln. Ein neues «Die da oben, wir da unten»-Denken hat sich etabliert. Ganz Linke und ganz Rechte entdecken, wieder einmal, ihre reaktionären Gemeinsamkeiten, an erster Stelle, dass Amerikaner und Juden an vielem schuld sind, eigentlich an allem.

Autoritarismus erscheint attraktiver als demokratischer Streit. Die Partei, die vom verbreiteten Unbehagen am meisten profitieren wird, ist die AfD. Die Vorstellung, man werde ihren Aufstieg mit einigen Aktionen zur «Einbindung» der Grollenden verhindern können, ist töricht. Deutschland, bisher neben der Ukraine das einzige grosse europäische Land, das ohne starke rechtspopulistische Bewegung ausgekommen ist, wird spätestens 2017 mit den übrigen Grossen Europas – mit Frankreich, Italien und Grossbritannien – gleichziehen.

Ab dann geht es hart auf hart. Das reaktionäre Rollback, das den Kontinent seit einigen Jahren heimsucht, geht einher mit einer bedenklichen Abwendung von europäischen Grundwerten. In der Levante erstarkt der Islamismus, parallel dazu gedeihen in ganz Europa die Rechtspopulisten. Marine Le Pen will mit Putin die «christliche Zivilisation» retten, nicht die Demokratie. Und welche Rolle Humanisten, frechen Karikaturisten und generell aufmüpfigen Geistern in einem von Putin und Le Pen «geretteten» Europa zugedacht ist, kann man sich ausmalen. Die Pariser Anschläge haben den letzten Beweis geliefert: Denen, die am lautesten zum Widerstand gegen die Barbarei des Islamischen Staats aufrufen, liegt nicht etwa die Aufklärung am Herzen, sondern im Gegenteil deren Liquidierung. Weg mit den Menschenrechten, her mit der Todesstrafe. Im Kampf gegen die Terrororganisation «Islamischer Staat» sieht die Rechte die einmalige Chance, auch gleich die verhassten Errungenschaften der aufgeklärten Moderne endgültig loszuwerden.

Vorbild, nicht Vorreiter

Neue Kreuzzüge aber wären eine Katastrophe. Nirgendwo wird das besser verstanden als in Deutschland, und deshalb kommt Deutschland im Kampf gegen den reaktionären Trend in Europa eine zentrale Rolle zu. Deutschland ist eine Grossmacht. Kein Land vertritt die Grundpostulate der Rechtsstaatlichkeit glaubwürdiger. In Russland werden Kritiker des Präsidenten in Sippenhaft genommen – in Deutschland wird ein Präsident vor Gericht geschleift, weil er in Verdacht geraten ist, einem Freund einen Freundschaftsdienst zu viel erwiesen zu haben. Das internationale Vertrauen ist seit Merkels Amtsantritt noch angewachsen, die bewegenden Tage der Wiedervereinigung sind ein wunderbarer Gründungsmythos für ein Land, das in mühseliger politischer Alltagsarbeit stets aufs Neue beweist, dass die Ideale der Aufklärung lebbar sind. Macht korrumpiert auch in Deutschland, sicher. Aber der Wille, Missbrauch einzudämmen, ist grösser als anderswo.

Die Trommel rühren für ideelle Werte – wäre Berlin damit nicht überlastet? Deutsches Werben für hehre Ziele löst ja nicht immer Entzücken aus; Merkels Sparappelle sind in Südeuropa verhasst. Zu versuchen ist es dennoch. Sicher, Deutschland misstraut allem, was nach Sendungsbewusstsein aussieht. Seit dem Krieg sträubt man sich gegen die Vorreiterrolle, in Brüssel tritt man noch immer zurückhaltend auf. Jahrzehntelang hatte sich der Deutsche mit Sternbergers und Habermas' «Verfassungspatriotismus» zu begnügen. So etwas wie Vaterlandsliebe versagte sich die Elite nach den Erfahrungen des Krieges, und sie untersagte es – sehr hoheitsvoll – auch dem Volk, das darüber nicht immer glücklich war.

Berlin kann vorangehen

Nun wäre es an der Zeit für einen Aufklärungspatriotismus. Er ist unverdächtig, da ureuropäisch – Voltaire, Diderot, Rousseau, Hume – und gleichsam genetisch unaggressiv. Religionstoleranz und Respekt vor individuellen Lebensentwürfen sind Gebote der Aufklärung, nicht des Christentums. Europa braucht nach all seinen Pannen und Missgriffen dringend Inspiration: Hier ist sie. «Zu abstrakt» ist an der aufklärerischen Ideenwelt gar nichts – Begriffe wie strikter Säkularismus, Religionstoleranz und juristische Neutralität beginnen im Ansturm von Religionsfanatikern ebenso hell zu leuchten wie in den Shitstorms engstirniger Nationalisten und Rassisten. Keinem Land würden Kosten auferlegt, keines käme zu kurz. Und Deutschland, so oft aufgefordert, in Europa wieder zu «führen», hätte endlich Gelegenheit, ohne schlechtes Gewissen Begeisterung zu zeigen und internationalen Schwung aufzubauen. Ein Europa als intellektueller Erlebnisraum jenseits von Euro-Zone und Transitverkehr: Um den Ansturm der dumpfen Allianz rechter und linker Demokratieverächter, von Putin bis Le Pen, aufzuhalten, darf Deutschland in Europa ruhig wieder vorangehen.

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