Samstag, 18. Juli 2015

Weil ich es mir wert bin.

aus beta.nzz.ch, 18.7.2015, 05:30 Uhr                                      Nix zu sehen

Permanente Selbstverwirklichung
Das bin ich mir wert
Mit der Zunahme des Wohlstands wächst der Wunsch, sich um mehr als das blosse Überleben zu kümmern. Doch macht die Beschäftigung mit den eigenen Bedürfnissen zufriedener?

von Seraina Kobler

Der obere Stock in einer grossen Schweizer Buchhandlung erinnert an eine Spielecke für Erwachsene: «Zen-color»-Mandalas verleihen angeblich Ruhe und Kraft. Wer es lieber gegenständlicher mag, greift zum Malbuch «Blumenmeer und Gartenzauber». Etwas weiter versprechen kleine und grosse Helfer wahlweise Ruhe («Yin-Yoga-Box mit Karten für individuelles Üben»), Gelassenheit («Warten – Erkundungen eines ungeliebten Zustandes») oder innere Freiheit («Die Kunst, sich selbst auszuhalten»). Regelmässig stürmen Bücher aus der Selbsthilfe-Abteilung die Schweizer Bestseller-Listen.

Leben mit Happy End

Hinter den Verkaufserfolgen steht die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben. Verwundern tut dies nicht: Die Bewältigung des Alltags ist für viele zu einem Leistungssport geworden. Ähnlich wie die technischen Geräte, die der moderne Mensch immer bei sich trägt, soll auch er immer schneller und effizienter werden. Und das natürlich ganz «smart», also mit einer ausgewogenen «Work-Life-Balance». Dies bedeutet ein tägliches Aufeinander-Abstimmen von Familie, Freizeit, Partnerschaft und Arbeit. Bei der Navigation helfen Heftchen wie «Flow», eine Art «Landlust für Latte-Macchiato-Mädchen», wie der «Spiegel» schreibt. Thematisch verspricht das Magazin, das sich rund um Achtsamkeit, positive Psychologe und Selbstgemachtes dreht, den Rückzug in die Idylle. In den letzten zwei Jahren konnte die Auflage mehr als verdreifacht werden, auf heute 210 000 Exemplare. Zum Vergleich: Das deutsche Nachrichtenmagazin «Focus» verkauft Woche für Woche etwa 500 000 Hefte.

Die Hinwendung zum Selbst ist zu einem lukrativen Wirtschaftszweig geworden. Die Wartezimmer von Psychologen und Lebensberatern sind voll, die persönlichen To-do-Listen werden immer länger. Möglich macht dies eine grosse materielle und gesellschaftliche Freiheit, die sich in den letzten Jahrzehnten mit der Zunahme des Wohlstandes in der Schweiz entwickelt hat.


Ein guter Indikator für dessen Auswirkungen sind die Wünsche und Sorgen der Jugend. Dabei steht auch die Berufsarbeit zunehmend im Fokus, wie dasneuste Credit-Suisse-Jugendbarometer zeigt. Wer bei der Arbeit keine Freude empfinde, solle den Beruf wechseln, so das überwiegende Credo der Befragten. Grund dafür sind die tiefen Arbeitslosenzahlen, aber auch das Wissen um die soziale Absicherung. Nur eine Minderheit war der Ansicht, dass man froh sein könne, wenn man überhaupt einen Job habe. Das überwiegend positive Lebensgefühl der Jugend kommt nicht von ungefähr: Wir können alles schaffen, wenn wir uns nur genug bemühen, flüstert uns der Zeitgeist ein.

An Bedeutung gewinnt dabei zunehmend der Drang zur persönlichen Weiterentwicklung und bewussten Lebensführung. Der Stellenwert der Freizeit habe sich seit den 1970er Jahren substanziell verändert, schreiben die Soziologen Jürgen Mittag und Diana Wendland in einem Aufsatz. Infolge wirtschaftlich gesicherter Existenzgrundlagen hätten sich kollektive und individuelle Wertvorstellungen gewandelt. Während die Bedeutung materieller Sicherheit abnahm, gewannen Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung und Lebensqualität an Gewicht. Es zeichnen sich verstärkt Individualisierungstendenzen ab. 

Dabei vermischen sich die verschiedenen Lebensbereiche zusehends: Der Beruf muss erfüllen und Spass machen, Beschäftigungen in der Freizeit sollen den Status steigern. Beiden Lebensbereichen gemein ist die stärkere Fokussierung auf das eigene Ich und die sich daraus ergebenden Bedürfnisse. Das Angebot der Möglichkeiten kann den Sinnsuchenden mitunter verwirren. Fast monatlich werden etwa neue Yoga-Arten kreiert: auf einem Stand-up-Paddel-Board, schwebend in Tüchern oder zur Anregung der Hormone in den Wechseljahren. Reicht Bewegung nicht aus, empfiehlt sich ein Achtsamkeits-Seminar auf der Alp, am Strand einer Mittelmeerinsel oder das Züchten vergessener Tomatensorten im Schrebergarten – je nach Vorliebe. Bleibt dafür keine Zeit, gibt es wenigstens eine Anti-Stress-App fürs Smartphone.

Ego-zentrierte Gesellschaft

Für eine Gesellschaft birgt die Ego-Zentrierung Gefahren. Denn diese höhlt den Sinn für die soziale Verantwortung aus und kann zu einer Entsolidarisierung führen. Insbesondere dann, wenn die dauerhafte Beschäftigung mit dem eigenen Glück und dessen Konsum zu einer Abwendung vom Politischen führt. Der amerikanische Publizist David Brooks fordert in seinem neuen Buch eine radikale Kehrtwende: Weniger Egoismus und Selbstverwirklichung, dafür mehr Demut und Aufopferung. Die kapitalistische Logik habe «biblische Sünden» zu vielversprechenden Eigenschaften gemacht. Die von ihm formulierte Kritik an der einseitigen Ausrichtung auf das Ökonomische würde man von einem Verfechter liberal-konservativer Werte nicht unbedingt erwarten, schrieb die «NZZ am Sonntag» kürzlich. Klar ist: Lebenssinn lässt sich mit dem Ausmalen von Mandalas nicht erlangen. Er lässt sich höchstens gut verkaufen.

Eine Bewegung weg vom Individuum und zurück zur Gemeinschaft müsste dennoch bei den Privilegierten beginnen. Aus einem einfachen Grund: weil sie es sich leisten können.


Nota. - Nicht eine "Bewegung weg vom Individuum und zurück zur Gemeinschaft" ist angezeigt, sondern eine Bewegung weg vom zehrenden Selbst und hin zum sich-selbst-verantwortenden Ich. Es ist nicht wahr, dass - in welchem Sinne denn? - "Privilegierte" sich das eher leisten können als Otto Normalverbraucher. So war das, als der Proletarier seine Arbeitskraft jeden Tag aufs neue verkaufen musste bei Strafe des Hungertods für sich und seine Familie. So ist das schon lange nicht mehr im westlichen Wohlfahrtsstaat. Es muss niemand mehr verhun- gern und erfrieren, selbst wenn er nicht arbeiten will. Niemand ist so existenziell vom Elend bedroht, dass er ihm seine Würde opfern müsste. Die Frage ist immer nur, was sie ihm wert ist. 
JE



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