Dienstag, 11. August 2015

Der Intellektuelle als Instanz.

Ulrich von Hutten
aus nzz.ch, 10. 8. 2015

Der öffentliche Intellektuelle
Von der hohen Kunst der Kritik
Jürgen Habermas, Lukas Bärfuss, Max Frisch oder Hans Magnus Enzensberger haben etwas gemeinsam: Sie sind «öffentliche» Intellektuelle, deren Stimme Gewicht hat. Und sie sind Männer.

von Urs Hafner

Wenn der Literat Lukas Bärfuss sich zu Wort meldet, hört man ihm zu, auch wenn er sich nicht literarisch äussert. Man hört auf ihn, wenn er zum Beispiel für die Flüchtlinge spricht, die in Europa eine bessere Existenz suchen oder hier unter misslichen Bedingungen leben. Bärfuss findet Resonanz nicht nur, weil er ein angesehener Künstler ist und sein Gerechtigkeitsempfinden gekonnt artikuliert, sondern auch, weil ihm die Öffentlichkeit – die Medien und das Publikum – das charismatische Amt des «öffentlichen Intellektuellen» verliehen hat.

Experten und Intellektuelle

Ein intellektueller Mensch überwindet beim Betrachten einer Sache – sei es ein Kunstwerk oder das eigene Leben – seine Vorurteile und die der anderen; er relativiert und reflektiert seine Position. Beim öffentlichen Intellektuellen kommt dazu, dass sein Räsonieren und Kritisieren sich auf die Gesellschaft bezieht, in der er lebt. Letztlich will er unabhängig von Parteien und Lobbyisten dazu beitragen, dass die Welt besser, gerechter, freier wird.

Der öffentliche Intellektuelle weiss nicht einfach nur Bescheid, er kennt nicht die «Lösung» für ein «Problem». Diese Funktion übernehmen die «Experten». Sie erklären volatile Börsenkurse und überraschende Abstimmungsergebnisse. Die Experten sind das Öl im Getriebe der Welt. Ihre Informationen passen in die von Common Sense, Verwaltung und Politik vorgegebenen Schemata. Sie bestätigen, was wir schon immer gewusst haben. Sie huldigen der Macht des Faktischen.

Der öffentliche Intellektuelle bohrt tiefer und blickt weiter. Er ist für die Demokratie das Salz in der Suppe, weil er die Fragen stellt, an die keiner denkt oder die niemand hören will. Glücklich darf eine Gesellschaft sich schätzen, in der viele Intellektuelle sich äussern: Sie heben das Niveau der öffentlichen Debatten. Wären sie in der Schweiz präsenter, wären sowohl die Minarett- als auch die Verwahrungsinitiative zumindest umstrittener gewesen, und der neue Antifeminismus beispielsweise käme nicht so krud daher.

Erfunden worden ist die Figur des öffentlichen Intellektuellen im streitlustigen Frankreich: 1898 veröffentlichte der Schriftsteller Emile Zola seinen Brief «J'accuse», in dem er den wegen Spionage zu lebenslanger Haft verurteilten Hauptmann Alfred Dreyfus für unschuldig erklärte und Justiz und Armeeführung belastete. Zolas Initiative führte zu heftigen Diskussionen über den Antisemitismus und stürzte Frankreich in eine politische Krise. Die Presse benannte diese neue öffentliche Kraft mit einem vorerst negativ besetzten Begriff, dem des «Intellektuellen».

Seither haben verschiedene Nationen unterschiedliche Typen von öffentlichen Intellektuellen hervorgebracht, die der Politik näher oder ferner stehen oder die es mehr mit der Kunst oder der Wissenschaft halten. Frankreich zeichnet sich durch sein intellektuellenfreundliches Klima aus: Man denke an die moralische Autorität eines Jean-Paul Sartre (der sich vom Stalinismus instrumentalisieren liess), an die Interventionen des Soziologen Pierre Bourdieu, des Philosophen Michel Foucault.

Ebenfalls in Frankreich ist der Intellektuelle zu Grabe getragen worden, allerdings voreilig. Zu Beginn der achtziger Jahre verkündete der postmoderne Philosoph Jean-François Lyotard, nach dem Ende der Utopien seien Figuren, die im Namen der Menschheit, der Nation oder der Gesellschaft sprächen, überflüssig. Doch das sind die Intellektuellen nicht, auch wenn ihre grosse Zeit vorbei ist. Nach wie vor engagieren sie sich mit moralischem Impetus, nach wie vor hört man sie und denkt vielleicht nach. In Deutschland wirken seit Jahren unverdrossen der Philosoph Jürgen Habermas und der Dichter Hans Magnus Enzensberger; man mag sich ihr Verstummen gar nicht vorstellen.

Die Schweiz mag Experten, Politologen, Juristen, Ökonomen und Naturwissenschafter, nicht aber Intellektuelle und auch nicht räsonierende Geisteswissenschafter; gross ist das Misstrauen gegenüber «Klugschwätzern». Wenn hier einer das Amt des öffentlichen Intellektuellen übernehmen will, muss er mehr Literat denn Analytiker sein: Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Niklaus Meienberg, Peter Bichsel, neuerdings Lukas Bärfuss, vielleicht auch Pedro Lenz. Peter von Matt ist zwar Literaturwissenschafter, tritt aber als Literat auf, Adolf Muschg ist zwar Literat, äussert sich aber zu versponnen.

Den Nicht-Literaten bleibt die öffentliche Sympathie verwehrt, auf die der öffentliche Intellektuelle bei allem Umstritten-Sein angewiesen ist. Dem Publikum waren und sind die Wortmeldungen des kürzlich verstorbenen Mediensoziologen Kurt Imhof und des Historikers Jakob Tanner zu akademisch. Auch keine öffentlichen Intellektuellen sind die in ihrem Einfluss nicht zu unterschätzenden Kolumnisten-Intellektuellen, die meist Politiker oder Ökonomen sind (Beat Kappeler, Werner Vontobel, Mathias Binswanger) – das Finanzland Schweiz weiss volkswirtschaftliches Bilanzieren zu honorieren. Anders als die Experten zielen diese zwar stets aufs Ganze, bleiben aber Gefangene ihrer disziplinären Provenienz.

Zwischen Zwingli und Zola

Die Figur des helvetischen Intellektuellen steht Zwingli näher als Zola. Er muss immer auch ein wenig Prediger sein, dessen Wortmeldungen bei aller Schärfe in eine Sinnstiftung münden, die nicht nur das ganze Land umfasst, sondern über das profane Diesseits hinausreicht. Darum kann das Amt des öffentlichen Intellektuellen nicht von einer Frau ausgeübt werden. In dieser Figur ist ein strikter «Gender-Bias» angelegt: Es ist der Mann, welcher der Nation und der Gesellschaft sagt, was schiefläuft, welche Ungerechtigkeiten begangen werden, wie man die Welt verbessern könnte. Die Figur des Predigers, der sich der «Res publica» annimmt, ist männlich vorgegeben.


Der Mann räsoniert über das Allgemeine, die Frau beschäftigt sich mit dem Besonderen: Sie kann von den Medien zur Expertin für alles Mögliche ernannt werden, sogar für Astrophysik, aber nicht zur öffentlichen Intellektuellen, auch wenn sie noch so intellektuell und charismatisch ist und sich in ihrem Denken auf die Gemeinschaft bezieht. Das ist nicht nur in der Schweiz so. Anders als ihr Gefährte Sartre konnte Simone de Beauvoir nicht als «Gewissen der Nation» oder der Menschheit auftreten, auch wenn sie mit ihren Analysen den wundesten Punkt der bürgerlichen Gesellschaft, deren systematische Geschlechterungleichheit, aufgedeckt hatte. Sein Paternalismus ist die Kehrseite des öffentlichen Intellektuellen: Sartre machte sich mehr als einmal lächerlich, als er die Arbeiter vor den Fabriken von einem Fass herab an ihre historische Mission erinnerte, die kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen.

Die einzige Frau, die es in der Schweiz der letzten fünfzig Jahre gewagt hat, eine öffentliche Intellektuelle sein zu wollen, Iris von Rothen, attackierte die bürgerliche Geschlechterordnung kompromisslos – und wurde darauf kompromisslos mit Ächtung bestraft, auch von Frauen. Selbst wenn sie mit mehr Taktgefühl auf die Kanzel gestiegen wäre, hätte man sie nicht erhört. Tiefer als auch schon ist die symbolische Ordnung der Geschlechter in den Grundfesten der Nation verankert.


Nota. - Seit der Erfindung des Ackerbaus und seit dem Übergang zur Sesshaftigkeit war der schmale Rand von Öffentlichkeit, der die versippten Wohngemeinschaften gegen die Nachbargemeinschaften abgrenzte, ein bevorzugter Platz der Männer; eine winzige Kompensation für die verlorenen Abenteuer der offenen Savanne. Kult, Fest, Krieg - das sind männliche Domänen, aber sie spielen gegen den eintönigen Alltag des Ackerbaus, wo die Frauen den Ton angaben, nur eine ganz, ganz kleine Rolle. 

Aber immerhin: Was immer einmal an Kultur und Politik aus der bloßen Haushaltung herausragen sollte, fand hier seine Wurzeln. 

Es bildeten sich Reiche aus, der Krieg wurde neben dem Ackerbau zum Produktionszweig, zu Königen wurden die Feldherren, aber auch die Religionsstifter und die Priester waren nun Männer.

Dann kam die Marktwirtschaft, und das Öffentliche durchdrang und unterwarf sich die privaten Haushalte. Dort herrschten einstweilen noch die Frauen, aber gegen "die Politik" und "die Wirtschaft" fiel es immer weniger ins Gewicht. So kam es zu dem Anschein einer uralten Unterdrückung der Frau durch den Mann.  

*

Mit andern Worten - dass nur Männer in die Rolle des öffentlichen Intellektuellen geraten, kann nur insoweit verwundern, als es öffentliche Intellektuelle überhaupt noch gibt. Ansonsten ist es in der Geschichte dieser Instanz selbst begründet.
JE





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