Sonntag, 13. September 2015

Mikroaggressiv verletzlich.

aus NZZ am Sonntag, 13. 9. 2015

Bitte nicht schütteln
Statt sachlich zu diskutieren, werden in öffentlichen Debatten immer häufiger verletzte Gefühle geltend gemacht. Die Radikalsensiblen geben sich dabei progressiv. Doch tatsächlich sind sie eine Bedrohung für die freie Gesellschaft.

von Barbara Höfler

Roberto Blanco sang 1972 «Ein bisschen Spass muss sein». Unter Spass verstand der Schlagersänger, Franz Josef Strauss beim CSU-Parteitag zuzurufen: «Wir Schwarzen müssen zusammenhalten!» Jetzt hat der Spass ein Loch. Ein CSU-Politiker nannte Blanco in einer Talkshow einen «wunderbaren Neger». Neger. N-Gate. Rücktrittsrufe. Völlig überraschend geriet anderntags noch einer unter Nazi-Verdacht. Blanco selbst, der kommentierte: «Ich habe mit Neger kein Problem. Ich fühle mich weder beleidigt noch verletzt.» Bamm!

Die anderen sind in der Causa aber mittlerweile alle beleidigt und verletzt: Talkshow-Moderator, Zuschauer, Faschisten, Afrikanisten, Schwarze, Weisse und natürlich die äusserst reizbare Internet-Crowd. «Sprache ist eine Waffe», sagte Kurt Tucholsky. Mit dem N-Wort wird heute jeder zum Bombenleger. Zum Aggressor gegen die Menschlichkeit, die sich zunehmend als Überempfindlichkeit definiert, wie es scheint.

Die Allersensibelsten richten in sozialen Netzwerken ernsthaft darüber, ob Roberto Blanco das trojanische Pferd der Rassisten ist. Der Faschismusgehalt der Aussage des bayrischen Innenministers Joachim Herrmann wird dagegen vergleichsweise lax überprüft. In der Talkshow zitierte Herrmann das böse Wort eigentlich nur aus einer Umfrage-Zuspielung kurz vorher. Wer ihm Rassismus vorwerfen will, könnte sich auch mit der Ausländerpolitik beschäftigen. Aber das entspricht nicht dem Niveau zeitgenössisch geführter Diskussion.

Konflikte, so scheint es, werden heute immer weniger mit harten Argumenten ausgetragen. Sie geraten stattdessen zunehmend zu hysterischen Gesinnungsdebatten, deren Gegenstand nicht mehr die Sache ist, sondern die Gesinnung und wer wen damit wie stark in seinen Gefühlen verletzt. Gewonnen hat, wie im Sandkasten, wer als Erster schreit.

> Schon vor ein paar Jahren verwandelten sich bei der Frage, ob der «Negerkönig» zum Schutze zarter Kinderseelen aus Pippi Langstrumpf gelöscht werden muss, liberale Bücherleser in blutrünstige Hyänen. Jetzt erleben wir die Steigerungsform dieser Tendenz zur völligen Übertreibung: statt Wut nun Gekränktsein als Trumpf.

Opferemotion

Mit Sätzen wie «Ich bin enttäuscht von dir» oder «Es verletzt mich, dass du...» werden Opferemotionen artikuliert und wird der andere in die Täterrolle gezwungen. Raus geht’s nur noch per Entschuldigung, die wiederum ein Schuldeingeständnis ist. Schneller kann man eine Diskussion nicht gewinnen. Schneller verlieren auch nicht.

In den Sprachgemetzeln der Gegenwart geht es nicht mehr nur um einzelne Tabuwörter. Tabu sind heute ganze Themenkomplexe, da nur noch emotional, also gar nicht mehr diskutierbar: Homöopathie, sämtliche Gender-Fragen, Siedlungspolitik Israels, Asylpolitik der EU, Tierschutz, Klimawandel, Jeans aus Kambodscha. Je kleiner die Gruppe, die sich dabei angegriffen fühlt, umso berechtigter wirkt ihr Ruf nach Schutz durch die Gemeinschaft – sprich: nach Sanktion.

Die Supermarktkette Aldi nahm Anfang des Jahres eine «1001 Nacht»-Seife mit Moschee vorn drauf aus dem Sortiment, Lego einen Bausatz «Jabba’s Palace» aus der «Star Wars»-Kollektion, der der Hagia Sophia in Istanbul ähnelte. Verletzung der religiösen Gefühle der empörten muslimischen Minderheit. Der «Hart, aber fair»-Moderator Frank Plasberg wiederholte diese Woche eine Folge – als Neudreh. Beim ersten Versuch im März hatte er sich nach dem Geschmack von Frauenverbänden zu stark über die Gender-Forschung amüsiert.

Die Splittergruppe der Transsexuellen dagegen wartet derzeit noch auf Ausgleich für die Kränkung durch Feministinnen, die mit «Frau» immer nur Frauen meinen, die schwanger werden können. Es gehört dazu, dass die verletzte Partei ihrem Hass dann in möglichst beleidigender Weise freien Lauf lassen darf. So kreischt eine Trans-Bloggerin: «Wenn dein Feminismus zu engstirnig ist, um unsere Perspektive mitzudenken: Get your shit done!»

Noch mehr Sprachregelungen würden hier aber kaum zur Deeskalation beitragen. Sie übererfüllen ihren Zweck bereits: Statt für mehr Verhandlungssicherheit sorgen sie in ihrer schieren Masse oftmals eher für Verhandlungsunfähigkeit. Dazu warf sich gerade in einer Harakiri-Aktion «Die Zeit» mit dem Titel «Was man nicht mehr sagen darf» in die Schlacht. Tenor: Wo alle kommunikative Schonung fordern, werden Sprechverbote zu Denkverboten, das Sich-gekränkt-Geben zum politischen Mittel. «Die entscheidende Macht hat nicht, wer spricht, sondern wer andere vom Sprechen abhalten kann», so der Autor Jens Jessen. Oder mit anderen Worten: Meinungsfreiheit muss eine Demokratie aushalten können. Wenn nicht, hat sie ein Problem.

Das Problem tritt in den USA, wo alles bigger und meist auch etwas früher ist, bereits klarer zutage. Das Magazin «Atlantic» beobachtete unlängst eine Institutionalisierung des Gekränktseins als Machtinstrument. Ausgerechnet am Hort der konkurrierenden Meinungen und Theorien, an der Universität, fordern Studenten immer öfter, von unliebsamen Worten und Ideen bitte verschont zu werden. Harvard-Studenten baten ihre Jura-Professoren etwa, die Rechtslage in Vergewaltigungsfällen aus dem Curriculum zu streichen – und auch das Wort «to violate». Beides verletzt die Gefühle der angehenden Juristen zu stark. Vergewaltigungsopfer müssten in den USA demnach, so ist zu befürchten, künftig ohne Gerichte auskommen.

Ende August verweigerten die Studenten der Duke University North Carolina die Lektüre eines Comics der Cartoonistin Alison Bechdel («Fun Home»). Es kommen darin Nackte vor. Zu «pornografisch». Klassiker der Weltliteratur wie «The Great Gatsby» von Scott Fitzgerald können nicht mehr ohne Warnung vor «domestic violence» besprochen werden: Jemand könnte traumatisiert werden.

Wo der Opferdruck der Hypersensiblen die freie Lehre nicht beeinträchtigt, regelt er die freie Rede auf dem Campus. Microaggressions lautet das Stichwort. 1954 waren Alltagsrassismen gegen Schwarze damit gemeint. Heute listet ein Merkblatt aus dem Büro des Präsidenten der University of California etwa den Satz «I don’t believe in race» auf. Man leugne damit «Erfahrung und Geschichte der rassischen/ethnischen Identität». «America is the land of opportunity» darf man auch nicht sagen. Damit unterschlägt man die Rolle von Rasse und Geschlecht beim Erfolg. An einer Uni in Massachusetts wurde derweil die Aktion einer asiatischen Minderheit zum Thema microaggressions abgebrochen. Aussagen wie «Aren’t you supposed to be good at math?» waren, wenn auch nur als Übung gemeint, einzelnen Studenten zu mikroaggressiv.

Aus dem Ruder gelaufen

Eine ursprünglich gute Sache ist hier völlig aus dem Ruder gelaufen: die «political correctness» der achtziger Jahre. Ging es dabei früher um eine gerechtere Gesellschaft und die Emanzipation von Randgruppen, geht es den Radikalsensiblen heute nur noch um Macht und persönliches Wohl. Ein «rachsüchtiges Protektorat» habe sich ausgebildet, so der «Atlantic», das nicht nur ständig Rücksichtnahme für sich selbst fordere, sondern auch die Bestrafung aller Andersdenkenden. An der Uni Michigan wurde ein Student, der einen Witz über microaggressions machte, von einer Gruppe weiblicher Furien heimgesucht, die seine Haustür mit Eiern, Hotdogs und der Botschaft «Everyone hates you, you violent prick» versahen. An der HU Berlin versuchen Soziologiestudenten seit Monaten den Politologen Herfried Münkler loszuwerden, indem sie im «Münkler Watch» nach jeder Vorlesung dessen angeblich sexistische und rassistische Äusserungen bloggen.

Was hier vor sich geht, ist kaum anders als eine kollektive Verhaltensstörung zu beschreiben: zwanghaftes Schwarz-Weiss-Denken, Rückschluss von eigenen negativen Gefühlen auf die Realität, mentales Filtern, Katastrophieren und übertriebenes Verallgemeinern.

Liegt’s an der Überbehütung durch zunehmend sicherheitsneurotische Eltern? Sorgt Facebook für Verdummung, wo Parolen mehr Anerkennung bringen als Abwägen und differenzierte Meinung? Möglicherweise funktioniert der Rückzug auf spontane Emotionen auch als Mittel der Komplexitätsreduktion. Wie auch immer: Die Verhaltensstörung muss schleunigst therapiert werden. Denn es verdirbt dabei nicht nur der Charakter. Demokratie ist ebenfalls nur mit Kritikfähigkeit, Urteilskraft und dem Aushalten mehrerer Wahrheiten zu machen. Alles andere wäre microaggressive der ganzen Gesellschaft gegenüber.

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