Mittwoch, 11. November 2015

Je komplexer eine Gemeinschaft ist, umso weniger bedarf sie persönlicher Führung.

Animal farm
aus derStardard.at, 7.11.2015

Warum Menschen schwache Anführer sind
Transdisziplinäre Studie zeigt: Menschliche Gesellschaften neigen weniger zu Machtkonzentration als Rudel anderer Säugetiere

von Tanja Traxler

Wien/Oakland – Es dauerte nicht lange, bis nach der Vertreibung des Bauern Jones in Animal Farm eine andere Spezies eine Gewaltherrschaft errichtete. In George Orwells Parabel sind es die Schweine, die sich zu den Führern der anderen Tiere machen – mit ähnlichen und teils schlimmeren Methoden als der Mensch.

Im Gegensatz zu Orwell ist in der Wissenschaft bisher angenommen worden, dass Führerschaft unter Menschen anders und weit komplexer funktioniert als im Tierreich. In einer transdisziplinären Studie zeigen Forscher nun im Fachblatt "Trends in Ecology & Evolution", dass menschliche Führer sehr ähnlich agieren wie tierische – aber weniger zu Machtkonzentration neigen.

Untersucht wurden Muster von Führerschaft in Gruppen von Säugetieren – neben acht menschlichen Gemein-schaften wie den Inuit oder dem Stamm der Tsimane in Bolivien, wurden dabei etwa Afrikanische Elefanten, Tüpfelhyänen und Meerkatzen empirisch erforscht. "Indem wir vergleichbare Maße entwickelt haben, konnten wir mehr Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Führern enthüllen als bisher angenom-men", sagt Jennifer Smith, Assistenzprofessorin am Mills College in Oakland (Kalifornien), die Erstautorin der Studie.

Kooperation unter Artgenossen ist im Tierreich häufig anzutreffen: Schimpansen reisen gemeinsam, Kapuziner-affen unterstützen einander bei Kämpfen, Tüpfelhyänen beim Jagen. Doch bislang war nicht bekannt, wie es Anführern gelingt, diese kollektiven Aktionen zu fördern. Um das herauszufinden, haben sich Biologen, Anthro-pologen, Mathematiker und Psychologen am National Institute for Mathematical and Biological Synthesis an der Universität Tennessee in Knoxville zu einer Gruppe zusammengeschlossen.

Erfahrung oder Vererbung

In vier Bereichen wurde Führerschaft untersucht: Bewegung, Futterbeschaffung, Konfliktmediation in der Gruppe und Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen. Eine der Fragen dabei war, ob die Fähigkeit zu führen durch Erfahrung erworben oder geerbt wird. Wie sich herausstellte, ist meist Ersteres der Fall: Individuen werden zu Führern, indem sie Erfahrung gewinnen. Allerdings gibt es ein paar bemerkenswerte Ausnahmen: Unter Tüpfelhyänen wird Führerschaft vererbt, ebenso vereinzelt bei indigenen Völkern – wobei die genauen Gründe dafür noch zu erforschen sind.

Im Vergleich zu anderen Spezies stellten sich Menschen als weniger führungsstark denn erwartet heraus: Die Anführer unter den Säugetieren haben häufig mehr Macht über die Gruppe, die Führerschaft bei Hyänen oder Elefanten etwa ist deutlich konzentrierter als beim Menschen. Ein Grund dafür könnte laut Smith das Faktum sein, dass Menschen dazu tendieren, spezialisiertere Rollen in einer Gesellschaft einzunehmen, als dies bei Tieren der Fall ist. "Selbst bei den am wenigsten komplexen menschlichen Gemeinschaften ist das Ausmaß an kollektiven Handlungen größer und vermutlich entscheidender für das Überleben und die Fortpflanzung als in den meisten Säugetiergemeinschaften", sagt die Biologin Smith.

Weiters machen es die menschlichen kognitiven Fähigkeiten für Planung und Kommunikation einfacher, Lösungen für kollektive Probleme zu finden. Die Mitglieder profitieren enorm von Zusammenarbeit, Zwang ist daher nicht notwendig, Menschen zu motivieren, ihren Anführern zu folgen – sie arbeiten mitunter auch freiwillig zusammen. 

Abstract
Trends in Ecology & Evolution: "Leadership in Mammalian Societies: Emergence, Distribution, Power, and Payoff"


Nota. – Während es bei Orwell darum ging, dass eine Gruppe – die stalinistische Bürokratie – die Macht an sich reißt, weil sie sie will, wurde hier untersucht, welche Gemeinschaften einen Machthaber brauchen und welche weniger.
Es handelt sich aber ausdrücklich um Studien an kleinen Lebensgemeinschaften, wo es um persönliche Füh-rerschaft geht, weil die Individuen einander persönlich kennen, und die also nicht übertragbar sind auf die großen Gesellschaftsbildungen unter den Menschen.

Allenfalls könnte man den trivialen Schluss ziehen: Je komplexer eine Gesellschaft, umso weniger bedarf sie persönlicher Machtausübung, um zusammengehalten zu werden. Die anonymen Sachzwänge besorgen schon das Nötige, oder wie schon die Liberalen des 19. Jahrhunderts predigten: Lasst nur den Markt frei walten, dann braucht ihr keinen Sonnenkönig. Und wie Max Weber hinzufügte: Wo genügend Bürokratie ist, braucht man auch kein Charisma.

JE


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