Donnerstag, 7. Januar 2016

Der nachhaltig Realexistierende.

aus nzz.ch, 6.1.2016, 16:50 Uhr

Rückstand bei Produktivität
Die Arbeit ruft, Russland schweigt
In Russland gibt es viele unterbeschäftigte Beschäftigte in überflüssigen Jobs. Das verursacht nicht nur Langeweile, sondern ist auch ein Zeichen für ein volkswirtschaftliches Problem.

von Benjamin Triebe, Moskau

Immer nach Neujahr fällt Russland in ein Loch. Das erste Drittel des Januars wird gänzlich von öffentlichen Feiertagen beherrscht. Noch bis Sonntag gehen Leben und Verkehr selbst in einer Metropole wie Moskau einen fast beschaulichen Gang. Viele Einwohner sind auf die Datschen oder zu Verwandten gefahren oder machen eine Ferienreise, wenn sie es sich noch leisten können. Und wenn die Kälte die Daheimgebliebenen in ihren Wohnungen hält, wähnt sich der Flaneur gelegentlich in einer Geisterstadt.

Um diesen Eindruck zu verscheuchen, empfiehlt sich der Gang in ein beliebiges Geschäft. Fast alle Läden sind auch an Sonntagen und Feiertagen geöffnet, nicht selten rund um die Uhr. Charakteristisch ist ferner eine Vielzahl von oft gelangweilten Angestellten, deren Servicebereitschaft gelegentlich zu wünschen übrig lässt. Dass sich Firmen nicht nur im Verkauf, sondern auch in Verwaltung und Produktion so manche unnötige Mitarbeiter leisten können, entspringt zum Teil dem sicheren Konsumwachstum der vergangenen Jahre. Noch hat die Rezession daran wenig geändert, die saisonbereinigte Arbeitslosenquote lag im November bei 5,8%. Zwar ist sie ein nachlaufender Indikator, die offiziellen Zahlen sind nicht immer vertrauenswürdig, und die Schattenwirtschaft ist gross. Aber von Massenentlassungen zu schreiben, wäre sicher falsch.

Arbeit ist in Russland mehr etwas, wo man hingeht – nicht etwas, was man tut. Die Vielzahl an unterbeschäftig-ten Beschäftigten in überflüssigen Jobs ist ein Zeichen für den grossen Rückstand bei der Arbeitsproduktivität. Pro Arbeitsstunde wurden in Russland laut OECD im Jahr 2014 rund 26 $ Wirtschaftsleistung produziert. Im Durchschnitt der OECD und der EU waren es kaufkraftbereinigt knapp 50 $, in der Schweiz 61 $ und in den USA 67 $. Zwar stand Russland zur Jahrhundertwende noch viel schlechter da, aber die Aufholjagd der ersten Dekade ist längst vorbei. Theoretisch könnte die Wirtschaftskrise Anlass für Effizienzanstrengungen sein, praktisch reagiert der Kreml mit Abschottung und Strukturkonservierung. Das allerdings erstaunlich produktiv.


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