Freitag, 5. August 2016

Was aus der proletarischen Revolution geworden ist.



Ein Flugblatt zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution:

50 Jahre danach

Vor 50 Jahren, am 7. November, übernahm die Bolschewistische Partei die Macht in Rußland - die erste siegreiche proletarischen Revolution der Weltgeschichte. Im November 1917 schickte sich das russische Proletariat an, den Sozialismus aufzubauen.

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen. Ist aber die Menschheit, ist die Sowjetunion seither dem Sozialismus näher-gekommen? Gewiß, in etlichen Teilen der Erde ist inzwischen die Herrschaft des Kapitalismus gebrochen worden. Aber können wir das gesellschaftliche Regime in irgendeinem diese Länder, von Ostasien bis zur Karibischen See, anhand der marxistischen Kriterien allen Ernstes als sozialistisch bezeichnen?

Nach einem halben Jahrhundert Aufbau des Sozialismus ist nicht etwa der Staat als Zwangsorgan der des Proletari-ats gegenüber der besiegten Bourgeoisie abgestorben, wie es Marx und Lenin erwartet hatten, sondern hat sich stattdessen als Zwangsapparat einer politisch und materiell privilegierten Bürokratenkaste über das Proletariat er-hoben und macht bisher nicht die geringsten Anstalten, absterbn zu wollen. Ein halbes Jahrhundert sind die Sowjets, die Organe der demokratischen Diktatur der Arbeiterklasse, zu unpolitische, machtlosen Schwatzbuden vom Niveau westberliner Bezirksverordnetenversammlungen verkommen. Die Bolschewistische Partei Lenins und Trotzkis, die Partei der Oktoberrevolution, ist ein Asyl für die Mittelmäßigkeit und Tummelplatz für Postenjäger geworden. Und andererseits ist es doch dem armseligen bäuerlichen Rußland gelungen, in dieser Zeit zur zweitstärksten Industrie-macht der Welt emporzusteigen!

Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Wie erklärt der Marxismus die unsäglichen Verbrechen, die in der Sowjetunion und durch die Sowjetunion im Namen des Sozialismus und er Weltrevolution begangen wurden? Wie ist es zu er-klären, daß von der Alten Garde des Bolschewismus, von den Kampfgefährten Lenins nur die blassesten, farblose-sten, charakterlosesten diese fünfzig Jahre überlebten, während die große Mehrheit den apokalyptischen Hexenjag-den der Stalin-Ära zum Opfer fiel - Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Radek und dutzende, hunderte ande-rer?



Für den Marxismus ist die phantastische Entartung der Bolschewistischen Partei zu einer Hilfstruppe der GPU weder ein schicksalhaft-unausweichlicher Prozeß noch ein Betriebsunfall der Weltgeschichte, verursacht durch den schlechten Charakter einer einzelnen Person - Stalin. Der Marxismus sieht in der Geschichte keine geheimnisvollen, überirdischen Weltgeister walten, noch ist ihm der historische Prozeß bloß die Summe der großen Taten großer Männer. Die Kraft, die er als die Dynamik im Verlauf der Geschichte erkennt, ist der Kampf feindliche Klassen und feindlich Schichte  innerhalb dieser Klassen - und zwar nicht nur in einem Land, sondern im Weltmaßstab.

Entgegen den Erwartungen von Marx und Engels hat die proletarische Revolution nicht zuerst in einem industriell hochentwickelten Land gesiegt - ein Umstand, der für die marxistische Theorie allerdings keineswegs unerwartet kam: Seit 1905 haben Rosa Luxemburg und L. Trotzki in der Tehorie der "permanenten Revolution" vorhergese-hen, daß das Proletariat vermutlich zuerst in einem zurückgebliebenen Land siegen würde, nämlich Rußland.

Für Marx und Lenin war die proletarische Revolution immer nur als Weltrevolution denkbar. Noch im Dezember 1921 erklärt der IV. Weltkongreß der kommunistischen Internationale, "daß die proletarische Revolution nie innerhalb eines einzigen Landes vollständig siegen kann, daß sie vielmehr international, als Weltrevolution siegen muß". Aber die proletarische Revolution in den andern Ländern bliebt aus - wesentlich mitverschuldet durch die falsche Politik der Komintern-Spitze. Sowjetrußland blieb eine vom Imperialismus umzingelte und belagerte Festung. 

Dies war - nach dem niedrigen Industrialisierungsgrad Rußlands und den den durch den Bürgerkrieg verursachten Verwüstungen - die wichtigste historische Voraussetzung für die Herausbildung einer ökonomisch und politisch privilegierten Bürokratenkaste, die sich über das Proletariat erhob und es seiner politischen Macht beraubte: Die Diktatur der Proletariats wird ersetzt durch die Diktatur der Bürokratie über das Proletariat.

In der warenproduzierenden, also von entfremdeter Arbeit lebenden Gesellschaft entstehen und reproduzieren sich unvermeidlich die aus der kapitalistischen Gesellschaft überkommenen Verdinglichungstendenzen, die zur Bürokratisierung auch der revolutionären Partei führen können. Dieser allgemeine Zug zur Bürokratisierung, der erst in der kommunistischen Überflußgesellschaft vollständig überwunden werden dürfte, mußte im rückständigen Rußland besonders scharfe Formen annehmen. Diese Bürokratisierung erschöpfte sich nicht mehr nur in mehr oder weniger individuellen Akten politischer Willkür, sondern verfestigte sich schließlich in materiellen Privilegien, die der Bürokratenkaste eine neue gesellschaftliche Qualität gaben.

Sowjetrußland litt in seinen frühen Jahren an einem akuten Mangel an fasst allen Konsumgüter, so daß eine gleichmäßige Verteilung des wenigen Vorhandenen nur eine Verallgemeinerung der Not hätte bedeuten können. Da die Bolschewistische Partei nach dem Verbot der anderen Parteien - die sämtlich ins Lager der bewaffneten Konterrevolution übergegangen waren! - das Monopol der politischen Macht ausübte, erlag ein Großteil der Partei- und Staatsfunktionäre der Versuchung, diese Macht und den sich daraus ergebenden administrativen Einfluß auf das Distributionssystem auszunutzen, um sich einen möglichst großen Anteil an den knappen Gütern zu sicher. Der Aufstieg der privilegierten Sowjetbürokratie findet ihren politischen Ausdruck im Aufstieg jenes Prototyps eines Apparatschiks: Josef Stalin, und in seinem Sieg über die Linke Opposition, die er physisch liquidieren ließ, einschließlich ihres Führers Leo Trotzki. Die Aufzählung aller Greuel, all der historischen Verbrechen und jedes Verrats an der Weltrevolution, die auf das Konto der Stalin-Bürokratie gehen, ersparen wir uns; ein jedes ist zu düsterer Berühmtheit gelangt.

Nach dem Willen der sowjetamtlichen Historiographie endet die verschämt so genannte "Periode des Personenkults" mit Stalins Tod 1953. Die Auswüchse, die "Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit" sollen seit dem "Tauwetter", seit der "Liberalisierung" ein Ende gefunden haben.

Aber hat die "Liberalisierung" etwas mit der Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft, mit einer Rückkehr zur Rätedemokratie zu tun?

Ganz und gar nicht. Die "Liberalisierung" ist nicht mehr und nicht weniger als der Reflex einer Machtverschiebung innerhalb der Bürokratenkaste; sie kommt nahezu ausschließlich der mittleren Schicht der Bürokratie, den Technokraten im Wirtschaftsapparat und der Intelligentsia zugute, deren spezifisches Gewicht in der Sowjetgesellschaft dank des großen technischen Fortschritts enorm angewachsen ist, und die daher der "zentralen Bürokratie", nämlich dem Partei-, Staats- und Militärapparat, einen Teil i9hrer politischen Prärogativen abtrotzen konnte. Das Proletariat bleibt bleibt politisch ebenso entmündigt wie zuvor: von Rätedemokratie keine Spur, worüber auch der gestiegene Lebensstandard nicht hinwegtrösten kann.

Aber gerade in diesem Aufstieg der Wirtschafts-Technokraten liegt heute, fünfzig Jahre nach dem Roten Oktober, die Hauptgefahr für die Errungenschaften der Oktoberrevolution. Die spontane, nicht recht bewußte Tendenz dieser Gesellschaftsschicht ist, wie bereits die Liberman'schen Reformen deutlich gemacht haben, die Rückkehr zum Profitprinzip, die Aushöhlung des Plansystems und die allmähliche Rückkehr zur Marktwirtschaft - das alles im Namen der "Effektivität". Heute, ein halbes Jahrhundert nach der Oktoberrevolution, zeichnet sich ein weiteres Mal die reale Möglichkeit einer kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion ab, dem ersten Arbeiterstaat in der Geschichte.

Die Gefahr, daß sich diese Möglichkeit zur Tendenz verdichtet, würde sich angesichts neuer, entscheidender Siege der Weltrevolution bedeutend vermindern. Ebendies mag der Hauptgrund für die mehr als zögernde Haltung der Sowjetunion gegenüber den revolutionären Bewegungen in der neokolonialen Welt sein; dies ist auch der Grund für den unablässigen Versuch eines Arrangements mit der US-Regierung.

Aber machen wir uns keine Illusionen: Die Gefahr der kapitalistische Restauration in der Sowjetunion kann letzten Endes und endgültig nur durch die politische Entmachtung der Bürokratie, durch die Rückeroberung der politischen macht durch das Proletariat und durch die Rückkehr zur proletarischen Rätemacht gebannt werden!


Redaktion
Neuer Roter Turm
Unabhängige Schülerzeitschrift

Sozialistische Jugend Deutschlands
Kreisverband Schöneberg

[Ende Oktober1967]


Nota. - Man merkt dem Text an, dass er im Vorfeld der 68er Studentenbewegung entstanden ist. Die 'allgemeine Verdinglichungstendenz der warenproduzierenden Gesellschaft' wird aufgeboten, um ein ganz konkretes histo-risches Ereignis zu erklären: die Dezimierung der russischen Arbeiterklasse im Bürgerkrieg und die daraus resul-tierenden Absorption der überlebenden bolschewistischen Kader durch den neuentstehenden sowjetischen Staatsapparat. Es war die Zersetzung und Auflösung der Führung , die den Weg zur bürokratischen Konterrevo-lution geebnet hat; doch von Führung mochte man im antiautoritären Zeitalter nicht recht reden. Nur war sie das alles entscheidende Problem. 


Immerhin war das Flugblatt ein Schritt in diese Richtung: Aus den beiden Unterzeichnern bildete sich im Lauf des Jahres '68 der Initiativausschuss für eine revolutionäre Jugendorganisation, aus dem schließlich die Kommunistische Jugend-organsisation SPARTACUS entstand.

* 

Niemand hat den abrupten, fast lautlosen Zerfall der Sowjetunion vorhergesagt, dem will ich nicht widersprechen. Ich meine: dass er so abrupt und fast lautlos war. Aber dass er möglich war, wurde im obigen Flugblatt deutlich genug ausgesprochen: dass in dem Millionenheer der Sowjetbürokraten der Stoff für eine neue Bourgeoisie heranreifte. Noch nicht abzusehen war - jedenfalls nicht von außen -, dass sich das einst monolithische Monster durch das Wuchern mannigfaltiger persönlicher Vasallitäten und mafiöser Seilschaften zu einer feudalen Un-Ordnung zurück-bilden müsste, bevor sich die Kerne eines kapitalistischen Unternehmertums herauskristallisieren könnten. 

Das ist bis zum heutigen Tag das Problem der postsowjetischen Gesellschaft. Das, was es an wagemutiger Unter-nehmerschaft gab, ist Putin schnell über den Kopf gewachsen, um sie in Schach zu halten (und vielleicht auch, um sie ein wenig an die Gesetze zu binden), musste er sich auf die überkommenen feudalen Baronien stützen, die er sich gewiss ebenso gern vom Halse geschaffen hätte. Aber viel eigene Macht hat er gar nicht, das sieht bloß so aus, weil sich in diesem feudalen Gewimmel alle andern Akteure gegenseitig lähmen. 

Soviel für heute als Nachtrag zum gestrigen Aufsatz über Maos "Kulturrevolution"...





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