Sonntag, 6. November 2016

Flegeljahre und die Kindergesellschaft.




Das Ärgerlichste am gestrigen Beitrag der NZZ zum sog. Jugendalter war, dass er das wirkliche Problem absichtsvoll vertuscht: die galoppierende Verinselung der Kindheit und ihre Verdängung aus dem öffentlichen Raum - der Vernichtungsfeldzug der Erwerbspädagogen gegen die Kindergesell- schaft, die die mächtigste Sozialisationsagentur beim Übergang aus der Kindheit in die Jünglingsjahre war, und der mit der Abrissbirne der Ganztagsschule nun endgültig der Garaus gemacht werden soll - zu Wohl und Vorteil der pädagogischen Zunft. 

aus Die Mediatisierung der Kindheit

Der größte Skandal der Pädagogik war und ist das Flegelalter. Es ist ein Alter, in dem man nicht betreut und schon gar nicht „maßgenommen“ sein will. Denn es ist die größte Krise im Leben eines jeden, es ist der Abschied von der Kindheit. Auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät, aber nicht nur, nicht einmal vor allem. Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war so und nicht anders. Und plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, oder sieht es nur so aus?  

Flegeljahre 

„Der entscheidende Grundzug des Pubertätsalters besteht darin, dass es  fast jeden Menschen zum Dichter macht“, indem er „die ganze Welt der Erscheinungen“ nicht für bare Münze, sondern bloß „symbolisch nimmt“ (Egon Friedell). Die Selbstverständlichkeiten sind dahin und alles gerät in Zweifel, nicht nur alles Andere, sondern auch das Selbst. Es ist der kritische Zustand par excellence, eine „zweite Geburt“ (Erik Erikson).

Nach außen gibt es sich durch Frechheit, Spottsucht und Mutwillen zu erkennen, und wurde vormals als Flegeljahre geschmäht und als Lausbubenalter oder Robinsonzeit verklärt. In unseren auf korrekten und sparsamen Umgang bedachten Zeiten sieht man sie als Vorstufe zur Jugend- kriminalität an und will ihnen mit Verhütungsmitteln begegnen. Dabei sind es wie eh die produktivsten Jahre, von deren Ertrag man ein Leben lang zehrt.

Welches ihr Ertrag ist, hängt davon ab, wie die Krise überstanden wurde. Die wichtigste, weil nächstliegende ‚äußere’’ Ressource eines Jeden bei Bewältigung der Lebensaufgaben sind seine alltäglichen Zusammenhänge mit Anderen. Die sind eng oder weit, viele oder wenige, tief oder flach; aber nicht gut oder schlecht.

Unter gewissen Umständen wirken sie freilich – auf andere – eher konstruktiv, unter anderen eher destruktiv. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, die Bedingungen so zu arrangieren, dass die lebensweltlich gegebenen Zusammenhänge zwischen jungen Menschen eher die Chance haben, konstruktiv zu wirken, als destruktiv. Dass Kinderbanden S-Bahnzüge demolieren, kommt vor. Wenn es aber in ihrer Lebenswelt Besseres zu erleben gibt als das, ist es weniger wahrscheinlich…

Kindergesellschaft
 
In  diesem  Alter  verfügen  wir  im  Wesentlichen über drei ‚äußere Ressourcen’, drei  Typen von Zusammenhängen mit Andern: Die eigne Familie daheim, die Schule hinter ihren Mauern, und die Kindergesellschaft – kid society – draußen auf Straßen und Plätzen. In der Familie sind die Zusammenhänge natürlich und heimlich, in der Schule sind sie künstlich institutionalisiert und verregelt. 

Und statt eines unerschöpflichen Kraftquells sind beide heut öfter Sturmzonen und Minenfelder. Die Kindergesellschaft dagegen ist ebenso natürlicher wie öffentlicher Zusammenhang. Im bestimmten Gegensatz, doch insofern immer in Wechselbeziehung zur privaten Häuslichkeit und der öffentlichen Institution, ist sie auf dieser Lebensstufe vorrangige Sozialisationsinstanz. Sie ist selber eine lebensweltliche, nicht-professionelle Form der ‚Jugendhilfe’ und Einrichtung der Generalprävention, die der Steuerzahler gratis kriegt.

„Die Sozialisierung des Kindes wird im Wesentlichen in der Kindergruppe vollzogen. Es gibt eine Kinderkultur, die unter Umgehung der Erwachsenen von den älteren auf die jüngeren Kinder übertragen wird. In der Kindergruppe wächst das Kind in die Gemeinschaft, und es erlebt durch den Erwerb von sozialem und technischem Geschick eine Art von sozialem Aufstieg, der sich mit dem Ansteigen seiner Rangposition verbindet. Die Älteren dominieren in freundlicher Weise über die Jüngeren. In der Kindergruppe können die Kinder ihren Spielpartner wählen. Sie können sich mit Gleichgeschlechtlichen zusammenfinden, Andersge- schlechtliche aufsuchen oder exklusive Freundeszirkel bilden. Schließlich kann das Kind auch alleine spielen, wenn ihm danach zumute ist.“ (Irenäus Eibl-Eibesfeld)
 
Das traf auch auf unsern Kulturbereich zu und änderte sich „erst mit der Ausbildung der anonymen Massengesellschaft und mit der im technischen Zeitalter fortschreitenden Zerstörung der Siedlungen durch den Verkehr. Kinder können sich nicht mehr so frei sozial und im Raume entfalten wie einst.“

Wagenburg!
 
Nicht zu vergessen der Einbruch des Pädagogenstandes! Die berufsmäßigen Sozialisationstechniker sehen in den eigenen Gesellungsformen der Kinder ihren natürlichen Feind und beteiligen sich, neben dem Straßenverkehr und der fortschreitenden Verwertung von Räumen und Zeit, an ihrer Brachlegung. In Kindergärten und Horten wird der urwüchsige Zusammenhang der Altersgruppen in Jahrgangsklassen aufgesplittert. „Mit dem Wegfallen der älteren, vorpubertären Kinder verlieren die Kleinen ihre anregendsten Spiel- und Sozialisationspartner außerhalb der Kleinfamilie. Außerdem geht darüber auch die Kinderkultur zugrunde, denn diese wird nicht von Erwachsenen tradiert.“ Um ihr Erbe wetteifern Schule und Kommerz, und eine entscheidende Bildungsinstanz geht verloren.

Wo sie nicht schon zum Erliegen kam, ist die Kindergesellschaft bis heute eine der wichtigsten Res- sourcen für das Heranwachsen in den Städten. In Amerika hat die kid society in der empirischen Sozialforschung wie in der Umgangssprache  Anerkennung gefunden. Hingegen deutet der in Deutschland gebräuchliche Begriff ‚soziale Kinderwelt’ (Lothar Krappmann) zwar auf die relative Autonomie  und Geschlossenheit dieser Sozialbildung hin; aber nicht auf das Medium, das vorrangig seinen Zusammenhang stiftet. Es handelt sich um eine Gesellschaft nicht nur in dem Sinn, dass sie ein ‚Netzwerk von Netzwerken’ darstellt, sondern  mit der spezifischen Bedeutung, dass ihr eine Öffentlichkeit zu Grunde liegt.

Es ist eine rudimentäre, parzellierte  Öffentlichkeit, in der Sensationen und Legenden leichter kursieren als Tatsachenmeldungen. Das liegt am großen Anteil, den die Phantasie an ihrem Zustandekommen hat. Die vorrangige Rolle, die in der Ausbildung der Kindergesellschaft der Einbildungskraft zukommt, markiert den Unterschied zur erwachsenen ‚wirklichen Welt’ von Vorteil und Wettbewerb, von deren Wertordnung sie noch kaum affiziert ist. Das macht aber nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke aus. 

Keiner wird bezweifeln, dass die Wertordnung der Kindergesellschaft, wenn sie sich frei entfalten könnte, große Ähnlichkeit mit den ritterlichen Tugenden von Parzival und der Tafelrunde hätte. „Treu sind sie und verlässlich, wie zu keiner Zeit ihres späteren Lebens wieder. Kein Feigling zu sein, ist ihr höchstes Ziel. Denn jeder will etwas gelten, gerade weil die Erwachsenen sie nicht für voll nehmen.“ (H. H. Muchow)

Raum und Zeit

Doch die öffentlichen Zusammenhänge brauchen, um sich zu finden, Platz. Den haben sie nicht mehr. Lausbubenalter und Flegeljahre sind in unsern Stadtlandschaften zusehends in zwielichtige Ecken abgedrängt, zerfasert, beengt, verkrüppelt. Die eigne Sozialität der Kinder kann ihre Energien nicht länger konstruktiv im ‚Abenteuer’ freisetzen. Sie findet keine Spiel-Räume mehr und muss sich destruktiv Bahnen brechen: Was einst nur Dummejungenstreiche waren, wird heut schon als „Gewaltbereitschaft“ beschrieen; und früher oder später erfüllen die Prophezeiungen dann sich selbst.

Nämlich immer dort, wo es sich um die verstümmelten Rudimente der Kindergesellschaft in jenen Vierteln handelt, in denen  sie überdurchschnittlichen Belastungen ausgesetzt ist. Dazu gehören inzwischen auch ethnische und sprachliche Grenzen, doch auch in den sozial noch stabilen Stadtvierteln  geht der Kindergesellschaft, angesichts zusehends von Erwachsenen verwerteter Räume und Zeit, ihr Regulationsmedium verloren: Öffentlichkeit; denn die braucht Plätze, wo man sich trifft.

In der erwachsnen, ‚richtigen’ Gesellschaft – das zwanzigste Jahrhundert  hat es hinreichend bewiesen – ist der zuverlässigste Regulator,  um dissoziale Kräfte zu neutralisieren, Öffentlichkeit. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dies für die Kindergesellschaft  weniger gälte. Bevor die Sozialpädagogik sich en détail den ‚Einzelfällen’ zuwendet, hat sie eine kulturpolitische Aufgabe en gros: der Kindergesellschaft Raum lassen. Sie ist präventiv in einem  eminenten Sinn.

Die wahre Antipädagogik

Die Pädagogisierung des Kindes war eine Seitenansicht der Bürokratisierung der Welt, die Max Weber für die unvermeidliche Folge der Rationalisierung moderner Gesellschaften hielt, und vor drei, vier Jahren galt allenthalben die ‚Entpädagogisierung der Kindheit’ als eine vordringliche Kulturaufgabe. Seit PISA heißt es: Kehrt, Marsch! Eine Frenesie der Verschulung geht durchs Land, wobei gerade PISA dafür keinerlei Anhaltspunkt gab, sondern eher fürs Gegenteil.

Bildung besteht nicht aus Informationen, die auf Dateien fix und fertig gespeichert und in Ordnern wohlsortiert  für den Abruf bereitliegen. Bildung ist ein lebendiges Vermögen. Sein Ursprung ist die Einbildungskraft. Seine gestalterische Energie ist die Fähigkeit zum wertenden Urteil. Einbildungskraft kann man niemandem „beibringen“. Allenfalls kann man sie „hervorrufen“ und herauslocken, wo sie brachgelegen hat. Urteilskraft dagegen kann man üben, indem man sie ausübt – am mannigfaltigen Material, das unsere Kultur bereithält. Der Stoff der Bildung ist kein Pensum, das abzuarbeiten ist, sondern ein Reichtum, der danach schreit, genommen zu werden; nicht mit Fleiß, sondern in Muße. Die Schulbeamten, die das nicht begreifen, sind unsere wahren Anti- Pädagogen!

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