Mittwoch, 7. Juni 2017

Domestikation und Ökonomisierung.

aus Die Presse, Wien,

Die Menschen werden immer klüger – und zahmer
Intelligenztests brachten stetig bessere Ergebnisse bei Rekruten. Nun stellt man den „Flynn-Effekt“ auch im Charakterlichen fest: Verstärkt werden Züge, mit denen man es zu etwas bringt.

 

Bis vor Kurzem ist die Menschheit immer klüger geworden, zumindest hat sie in IQ-Tests, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, kontinuierlich besser abgeschnitten, um drei Punkte pro Jahrzehnt. Das fiel dem Politologen James Flynn 1984 auf, es wurde nach ihm benannt. Erklärt ist es bis heute nicht, und das, obgleich die US-Psychologen es als „eines der bemerkenswertesten Phänomene“ identifizierten und 1996 ihre „Task Force for Intelligence“ darauf ansetzten. Klar ist nur, dass nicht alles gleich schnell geht: „Kristallisierte Intelligenz“ – bei der es um Sachwissen geht – kommt weniger voran als „flüssige“, in der etwa Zahlenreihen wie 2, 4, 16 fortgesetzt werden müssen.

Was steht dahinter? Es gibt nur Hypothesen, physische Faktoren wie die Ernährung wurden erwogen – die Menschheit ist im gleichen Zeitraum auch in ihrer Körperlänge gewachsen –, soziale natürlich, von steigenden Einkommen bis zu schrumpfenden Familien, und die Umwelt hat sich auch verändert, etwa die Technik, die permanent mehr Anforderungen an die Kraft des Gehirns stellt (und weniger an die des Körpers).

Das Rätsel blieb, nun wird es noch ein wenig größer: Der Effekt, den man bisher nur in der Intelligenz sah, hat sich nun auch breit in Charaktereigenschaften gezeigt, mit denen man es in Ökonomien kapitalistischen und Gesellschaften westlichen Zuschnitts zu etwas bringt: Das Selbstbewusstsein ist gestiegen, die Sozialkompetenz auch, Führungs- und Leistungsbereitschaft sind es ebenso, dafür ging der Widerspruchsgeist zurück, Gehorsam machte sich breiter.

„Ökonomisch wertvolle Spuren“

All das sah Matti Sarvimäki, Ökonom an der Universität von Helsinki, als er ein singuläres Archiv erschließen konnte, das des finnischen Militärs. Bei dem gibt es Eingangstests für IQ und Charakter, Sarvimäki hat die der Geburtsjahrgänge 1962 bis 1976 ausgewertet – insgesamt 419.523 Rekruten –, er sah in dieser Zeit den Trend einer „säkularen Erhöhung von ökonomisch wertvollen Persönlichkeitsspuren“, der sich dann auch in erhöhten Einkommen umsetzte (Pnas 5. 6.).

Fest steht dieser Trend allerdings nur für Männer, und zwar für die, die zum Militär gehen. Frauen tun das in Finnland nicht, auch nicht alle Männer tun es, andere ziehen den Friedensdienst vor. Man weiß auch nicht, wie lange der Trend anhält, beim Flynn-Effekt hat man zuletzt Hinweise auf eine Umkehrung gefunden, beim Längenwachstum auch, vor allem in den USA.

Aber auch mit diesen Einschränkungen bleibt das Rätsel, Sarvimäki vermutet partiell die steigende Bildung der Eltern dahinter und die schwindende Größe der Familie. Die muss allerdings gesund sein, wenn die Kinder es bleiben sollen: Michael Murphy (Carnegie Mellon) hat erwachsene Freiwillige ins Labor gebeten und sie mit Schnupfen infiziert (Pnas 5. 6.). Der traf die hart, die als Kinder erleben mussten, dass ihre Eltern nach einer Scheidung kein Wort mehr miteinander sprachen. Taten sie es doch, waren die Kinder im späteren Leben so gefeit wie die aus funktionierenden Familien.


Nota. - Dass sich Eigenschaften verstärken, die einen Selektionsvorteil bieten - wen wird das wundern? In dem Maße aber, wie die Tugenden der Arbeitsgesellschaft demnächst weniger gefragt sein werden als das Tempera- ment eines Spielers, werden Angepasstheit und Schleimerei wieder aus der Mode kommen.
JE



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