Mittwoch, 23. August 2017

Entpolitisierende Korrektheit.

aus spiegel  
aus Die Presse,

Mark Lilla: „Die jungen Amerikaner sind entpolitisiert“
Der US-Politikwissenschaftler Mark Lilla von der Columbia University kritisiert die intellektuelle Mode der Identitätspolitik, die von Amerikas Hochschulen ausgehend viele junge Linksliberale von der Gesellschaft entfremdet habe.


Nach der US-Präsidentenwahl haben Sie den politischen Abstieg der Linken mit deren Fixierung auf Identitätspolitik begründet, also die Betonung der Unterschiede von Minderheiten. Ist also eine Handvoll französischer Philosophen – Strukturalisten, Poststrukturalisten, Männer wie Michel Foucault – schuld daran, dass Donald Trump Präsident ist?

Nein. Das wäre zu einfach. Ich denke aber, dass sie dazu beigetragen haben, dass die amerikanische Vorstellungskraft in den vergangenen rund 30 Jahren von den Republikanern übernommen worden ist. Linke Amerikaner sind seither zu zwei Dingen unfähig: erstens, ein alternatives Bild des guten Lebens und Amerikas Gegenwart und Zukunft zu zeichnen, das ebenso überzeugend ist wie jenes, das Ronald Reagan uns angeboten hat und mit dem wir noch immer leben. Zweitens – und hier ist die Verbindung zu den Philosophen direkter – haben amerikanische Liberale und Linke den Blick darauf verloren, eine klare Botschaft zu formulieren und damit Wahlen zu gewinnen.

Woran liegt das?

Das liegt vor allem an der Idee aus den Sechzigerjahren, dass alles politisch sei: sexuelle Beziehungen, Universitäten, alles. Das hat zur Folge, dass die Aufmerksamkeit für das Zentrum politischen Handelns in Demokratien verloren gegangen ist: nämlich Wahlen zu gewinnen. Dazu kommt ihre Verliebtheit in politische Bewegungen, als Gegensatz zu politischen Institutionen. Und letztlich gibt es eine Versunkenheit in das Selbst: Das libertäre Ethos der jüngsten 30 Jahre hat zu dieser Faszination für das Selbst geführt. Poststrukturelle Theorie ist Teil dieses Mix. Sie hat zu einer Entpolitisierung junger Amerikaner geführt, die glauben, politisch zu sein, indem sie sich auf ihre individuellen Identitäten konzentrieren oder sich nur insofern engagieren, als ihre jeweilige Selbstdefinition betroffen ist. Stattdessen sollten sie auf herkömmliche Weise tätig werden, also Ideen entwickeln, ein Programm vorlegen, Wahlen gewinnen.

Wenn man in Amerika lebt, gewinnt man den Eindruck, dass an vielen Hochschulen enorme Energie dafür eingesetzt wird, Beschwerden zu propagieren, die oft nur winzige Gruppen betreffen. Man denke zum Beispiel an die Debatte um den Zugang zu öffentlichen Toiletten für Transsexuelle. Wenn man einwirft, dass so ein Minderheitenthema von den großen, die Gemeinschaft betreffenden Fragen ablenkt, wird man rasch und wütend kritisiert. Was soll man da tun?

Viele, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren dort politisch aktiv waren, haben an den Hochschulen Karriere gemacht. Während das Land sich in der Zwischenzeit von ihrer Politik abgewendet hat, haben sie die Universität kolonisiert und behandeln sie als eine Art Bühne für die Inszenierung von politischen Kabuki-Dramen, die wenig Bezug zum Leben außerhalb haben und symbolisch hoch aufgeladen sind. Darum finde ich, dass das Gerede von einer „Vergewaltigungskultur“ an den Hochschulen der Debatte über die sexuellen Beziehungen unter Studenten einen schlechten Dienst erweist. Was diese Toilettenfrage angeht: Wie viele Leute betrifft das wirklich? Nicht die Toilette seiner Wahl benützen zu können, ist nicht damit zu vergleichen, als Schwarzer in den Sechzigerjahren in einem segregierten Imbisslokal kein Essen serviert zu bekommen.

Was folgt daraus?

An den Universitäten, diesen kleinen, utopischen Gemeinschaften, wo alles ausdiskutiert werden muss und jeder versucht, noch radikaler zu sein als die anderen, herrscht ein totaler Verlust des Sinnes für Verhältnismäßigkeit. Identitätspolitik drückt aus, statt zu überzeugen. Die Anliegen von Studenten an wohlhabenden Hochschulen haben keinen Bezug zur Sprache, zum Leben der Menschen draußen im Land. Man gewinnt keine Stimmen für die Demokratische Partei, wenn man einen Autoarbeiter aus Michigan über seine Privilegiertheit als Weißer belehrt und ihm den Sinn des Wortes „Cisgender“ beibringt.

Auch in Europa versagen linke Regierungen darin, wirtschaftliche Probleme zu lösen, und konzentrieren sich auf identitätspolitische Erfolge: Der spanische Sozialist Zapatero setzte ebenso wie der Franzose Hollande die Ehe für Gleichgeschlechtliche um, an Wirtschafts- und Sozialreformen scheiterten beide.

Die europäischen politischen Parteien sind ein Erbe des 20. Jahrhunderts. Bis in die Fünfziger-, Sechzigerjahre entsprach die Spaltung in diesen Ländern der politischen Spaltung zwischen Sozialisten und Konservativen. Darum hat das politische System funktioniert. Aber heute wirkt eine andere Spaltung, nämlich die zwischen denen, die von der Globalisierung profitieren, und denen, die das nicht tun. Die traditionellen europäischen Parteien sind Eliten, Nutznießer dieser globalisierten Welt. Darum ist das Problem nicht nur, dass sie keinen Plan für die Wirtschaft haben: Sie funktionieren nicht mehr, weil sie nicht mehr repräsentieren, was in der Gesellschaft passiert.

Ist die Unterteilung in Links und Rechts noch hilfreich, um die Welt zu verstehen?

Wir haben heute insofern eine Links-Rechts-Unterteilung, als es kosmopolitische und anti-kosmopolitische Kräfte gibt. Die kann man nennen, wie man will. Man findet heute Elemente der alten Linken und Rechten auf beiden Seiten. Die extrem rechten Parteien sind populistisch und insofern demokratisch. Sie sind demokratische Arbeiterparteien. Andererseits ist es nicht immer klar, wie sie zum Sozialstaat stehen. Die einzelnen politischen Haltungen verschieben sich, aber die fundamentale Spaltung bleibt. In der Geschichte Englands sprechen wir vom Unterschied zwischen dem Hof und dem Land. Dieselbe Unterscheidung haben wir jetzt: hier eine höfische Gesellschaft, die sich um die Quelle des Wirtschaftswachstums dreht, nämlich Offenheit zur Welt und Bildung – und dort jene, die nicht dazu gehören. 

ZUR PERSON 

Mark Lilla (* 1956 in Detroit) ist Professor für Politikwissenschaften und Ideengeschichte an der Columbia University in New York. Im dieser Tage erschienenen „The Once and Future Liberal: After Identity Politics“ (Harper Collins) befasst er sich mit der Sinnkrise der Linken. Zuvor hatte er in „The Shipwrecked Mind: On Political Reaction“ (New York Review of Books, 2016) die Grundlagen reaktionären Denkens analysiert. [ Columbia University ]


Nota. - Es ist nicht bloß ein falscher Zungenschlag - es ist ein Denkfehler, wenn Lilla die politisch korrekte 'Linke' so beschreibt, als würde dort jeder versuchen, "noch radikaler zu sein als die anderen". Noch identischer will jeder sein als die andern, noch etwas mehr 'er selbst', noch radikaler im Ichbezug. Und gegen alle andern noch zudringlicher. Das ist keine irrige Politik in richtiger Absicht. Das ist Unpolitik in sehr schlechter Absicht. Zensur und Gesinnungsterror sind kein Übereifer, sondern authentisches Ergebnis. Was daran links sein soll, ist ein Rätsel.
JE

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