Montag, 2. Oktober 2017

Haben Gruppen einen eigenen Willen?

aus derStandard.at, 2. Oktober 2017, 09:00

Sind Gruppen und Organisationen autonome und verantwortliche Akteure?
Das "diskursive Dilemma" tritt früher oder später auf, wenn interne Entscheidungen nur nach einer einfachen Mehrheitsregel getroffen werden.

Blog Herlinde Pauer-Studer 

Die Antwort auf die im Titel genannte Frage scheint evident. Selbstredend halten wir Institutionen, Organisa- tionen, Vereine, Gesellschaften, Firmen verantwortlich für das, was sie tun. Aussagen wie "Die Firma X ist selbst schuld an ihrem Konkurs"; "die Partei Y hat es geschafft, ihren Stimmenanteil fast zu verdoppeln"; "Der Gruppe G ist es gelungen, den gestrandeten Wal zu retten"; "Der Konzern Z trägt die Verantwortung für dieses Umweltdesaster" sind fester Bestandteil unseres Alltagsdiskurses.

Doch was steht philosophisch hinter diesen Zuschreibungen kollektiven Tuns und kollektiver Verantwortung? Sind diese wirklich so einfach und unproblematisch? -

Willentlich handelnde Organisationen – eine unsinnige Annahme?

Verantwortlichkeit setzt bekanntlich autonom handelnde Personen voraus. Verantwortlichkeit ist nicht nur an kausale Verursachung, sondern an einen personalen Willen, der sich frei entscheidet, gebunden.

Doch in welcher Form können wir Gruppen, Organisationen und Institutionen Autonomie und damit einen Willen zuschreiben? Wie soll eine Organisation über solch mentale Einstellungen verfügen, die Voraussetzung von Verantwortung sind?

Bereits Max Weber artikulierte seine Bedenken in seinem Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" (1922): Der Begriff kollektiver Verantwortung ergebe keinen Sinn, weil wir keine genuin "kollektiven Handlungen" identifizieren können; es gebe nur übereinstimmende Absichten und Handlungen individueller Gruppen- und Gesellschaftsmitglieder. Für methodologische Individualisten wie Max Weber ist es schlicht bizarr, von den Intentionen und Urteilen einer Institution oder Organisation jenseits der Urteile der einzelnen Mitglieder zu sprechen. Wie aber halten wir es dann mit der für uns so selbstverständlichen Verantwortungszuschreibung an kollektive Akteure?

Das diskursive Dilemma

Christian List und Philip Pettit haben ein Argument entwickelt, das sogenannte "diskursive Dilemma", das zeigen soll, dass es nicht nur erlaubt ist, von Gruppenintentionen und autonomen Gruppenakteuren zu sprechen, sondern dass dies notwendig ist, um Inkonsistenzen bei der Zusammenfassung (Aggregierung) der Urteile einzelner Gruppenmitglieder zu einem Gesamturteil der Gruppe zu vermeiden. Vorausgesetzt ist dabei, dass sich Intentionen (Absichten, Willenskundgebungen) in der Zustimmung zu einer entsprechenden sprachlichen Aussage (zum Beispiel dass P gilt) ausdrücken. Das diskursive Dilemma zeigt nun, wie List und Pettit argumentieren, dass die Urteile einer Gruppe oder Organisation nicht als Funktion der Urteile der Gruppen- oder Organisationsmitglieder verstanden werden können. Das bedeutet, dass es Sinn macht, einen von den einzelnen Gruppenmitgliedern unabhänigigen kollektiven Akteur vorauszusetzen.

Das diskursive Dilemma hat folgende Struktur:

Eine Gruppe von drei handelnden Personen (A, B und C) wählt für die Bildung der Gruppenurteile (also der Urteile der Gruppe als Ganzes) die Methode der einfachen Mehrheitsentscheidung. Nehmen wir nun an, die einzelnen Gruppenmitglieder müssen sich auf der individuellen Ebene ein Urteil darüber bilden, ob sie jeweils die Aussage P, die Aussage Q, die Aussage R für sich genommen akzeptieren; des Weiteren müssen die Gruppenmitglieder (A, B, C) sich auch individuell ein Urteil darüber bilden, ob sie auch die Konjunktion dieser Einzelurteile akzeptieren, das heißt ob sie auch dem Urteil "P&Q&R" zustimmen.

Angenommen, es ergibt sich folgende Situation: Alle außer Person A wählen P, alle außer Person B wählen Q, alle außer Person C wählen R. Folglich akzeptiert niemand, also weder Person A noch Person B noch Person C, die Konjunktion dieser Einzelurteile, nämlich "P&Q&R". Denn eine Konjunktion gilt logisch nur dann als wahr beziehungsweise akzeptiert, wenn alle ihre Einzelaussagen wahr sind beziehungsweise wenn man diesen auch zustimmt. Wenn nun die Gruppe bei der Bildung des Gruppenurteils nach der Regel der einfachen Mehrheit vorgeht (die Zustimmung der einzelnen Gruppenmitglieder zu der Aussagenkonjunktion "P&Q&R" hängt also davon ab, welches einzelne Urteil der einzelnen Gruppenmitglieder von einer Majorität akzeptiert wird), dann ergibt sich ein Widerspruch. Denn nach der einfachen Mehrheitsregel akzeptiert die Gruppe jeweils P, Q, und R, lehnt aber "P&Q&R" ab.

Folgende Matrix veranschaulicht dieses Ergebnis: 


Was folgt aus der hier aufgezeigten Inkonsistenz? Nach List und Pettit ist jede Gruppe, Organisation oder Institution, die ihre internen Entscheidungen nur nach einer einfachen Mehrheitsregel zu treffen versucht, früher oder später mit dem diskursiven Dilemma konfrontiert. Vermeiden lässt es sich nur durch komplexere und inhaltlich angereicherte Deliberationsverfahren, die über die Summierung der unmittelbaren Präferenzen der Gruppenmitglieder nach einem einfachen Mehrheitsprinzip hinausgehen. Beim Erzielen einer gut begründeten Gruppenmeinung oder einem gut begründeten Urteil einer Organisation oder Institution darf und soll man sich also nicht blind auf eine simple Mehrheit unreflektierter Einzelurteile verlassen.

Des Weiteren ergibt sich aus dem diskursiven Dilemma, so List und Pettits These, dass Gruppen und Organisationen sehr wohl eigenständig urteilen und entscheiden und somit Verantwortung tragen. Gruppen und Organisationen als autonome Akteure zu begreifen, setzt voraus, dass diese Haltungen und Urteile ausdrücken können, die unabhängig sind von den Urteilen der Individuen, welche die jeweilige Gruppe (Organisation, Institution) bilden. Und das diskursive Dilemma zeige eben dies: die Urteile einer Gruppe oder Organisation sind mehr als die aggregierten Urteile der einzelnen Gruppenmitglieder. Damit ist nach List und Pettit bewiesen, dass Gruppen, Organisationen und Institutionen als eigenständig Handelnde mit Verantwortung gelten.

Welche Schlüsse sollen wir aus Lists und Pettits Überlegungen ziehen? Welche Deliberationsverfahren und Entscheidungsstrukturen ermöglichen uns, diskursive Dilemmatazu vermeiden? Welches sind die Lektionen für den politischen Umgang mit einfachen Mehrheiten, wenn es um zukunftsentscheidende Abstimmungen ganzer Staaten geht? 

Herlinde Pauer-Studer ist Professorin für Philosophie an der Universität Wien. Schwerpunkt ihres ersten ERC-Advanced Grants zur "Transformationen normativer Ordnungen" (2010-2105) war das Rechtssystem des NS-Regimes. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Moral von Gruppen. Zahlreiche Aufenthalte in den USA, unter anderem in Stanford, Harvard und an der New York University. Aktuelle Veröffentlichung: "'Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin' – Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen", gemeinsam mit J. David Velleman, erschienen bei Suhrkamp.

Literatur zum Blogbeitrag
  • Christian List und Philip Pettit, Group Agency: The Possibility, Design, and Status of Corporate Agents, Oxford University Press 2013.
  • Martin Kusch, Herlinde Pauer-Studer und Hans Bernhard Schmid (eds.), Schwerpunkt zu "Group Agency and Collective Intentionality", in: Erkenntnis, Volume 79, Supplement 9, 2014

Nota. - Ich frage mich, welchen praktischen Sinn solche Fragestellungen haben. Die meisten Organisationen, mit denen wir wirklich zu tun haben, sind faktisch und oft auch formell hierarchisch organisiert, da kommen einfache Mehrheitsentscheidungen gar nicht vor. Schon die Zugehörigkeit zur 'Gruppe' impliziert eine vorgän- gige Zustimmung zu oben gefällten Entscheidungen. 

Praktisch bedeutsam wäre sie bei spontanen Volksansammlungen und politisch-gesellschaftlichen Organisatio- nen (Parteien, Gewerkschaften). In Volksansammlungen wird nicht deliberiert, sondern Stimmung gemacht. Politisch-gesellschaftliche Organisationen dagegen haben ihre Traditionen (Gründungsmythen), durch die gewisse Meinungen legitimiert, andere verpönt sind. Änderungen der Legitimität werden umso selbstverständ- licher aus dem gesellschaftlichen Umfeld in die Organisationen hineingetragen, je repräsentativer sie für eine Gesellschaft sind. 

Es ist mir schleierhaft, wozu ein mathematisches Modell des molekularen Prozesses, wie sich in der Interaktion mit der gesellschaftlichen Umgebung die Stimmungen verschieben und umkippen, praktisch taugen kann. Soll die Formel darüber bestimmen, ob und in welchem Maß die einzelnen Mirglieder für das Handeln der Organi- sation persönlich verantwortlich gemacht werden können? Das ist in jedem einzelnen Fall keine wissenschaftli- che, sondern eine politische Entscheidung. Es hängt nämlich vom Apriori dessen ab, der die Autorität hat, sie zur Verantwortung zu ziehen.
JE


 

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